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Charkiw: Erinnerungen an die Vorkriegszeit

Schriftsteller Michael Zeller porträtiert in „Die Kastanien von Charkiw – Mosaik einer Stadt“ das Leben in der Ukraine

Als erster internationaler Gast war der Schriftsteller Michael Zeller in der Literaturresidenz der zweitgrößten Stadt der Ukraine zu Gast. In seinem Buch „Die Kastanien von Charkiw“ porträtiert er das Leben an diesem Ort, der aktuell im Ukraine-Krieg im Mittelpunkt von Kampfhandlungen steht. Seine Reaktion auf die Entwicklung derzeit: „entsetztes Schweigen”.
 

Als Michael Zeller nach einem langen Aufenthalt in Charkiw 2019 im „Park der Poesie“ Abschied von der lieb gewonnenen Stadt nimmt, ahnt er nicht, dass er wohl für lange Zeit nicht mehr in den Osten des Landes reisen wird. Wo Zeller in seinem Buch das blühende Leben in den Straßencafés schildert, stehen mittlerweile russische Truppen. Bilder von Tod und Zerstörung gehen um die Welt.
 

Der Platz der Freiheit

Die Schilderungen des Autors sind aktuell und muten zugleich an wie aus einer anderen Zeit. Dem 1944 in Breslau (heute polnisch: Wrocław) geborenen Verfasser zahlreicher Romane gelingt es, in „Die Kastanien von Charkiw – Mosaik einer Stadt“ seine Sympathie für die Menschen in der Ukraine mit einem genauen Blick auf die Dinge zu verbinden: „Du trittst aus dem neu möblierten Schewtschenko-Park, und vor dir öffnet sich ein Platz von ungeheurer Größe und geradezu wüster Leere – der Platz der Freiheit. Nicht weniger als zwölf Hektar misst er.“

Zeller weiß, dass seit dem Ende des Kommunismus und der sowjetrussischen Herrschaft die „gepflasterte Wüste“ den programmatischen Namen „Platz der Freiheit“ trägt, „und Lenin stemmt längst nicht mehr seinen massigen, nackten Schädel einer Freiheit entgegen, die er sehr anders sah und anders wollte.“
 

Der Krieg schon damals ganz nah

Schon bei Zellers Besuch im Herbst 2019 wird der Schriftsteller vor dem aggressiven Nachbarn im Osten gewarnt. Doch Zeller notiert damals: „Hier vor Ort ist der Krieg kein Thema. Für mich als Fremden jedenfalls sind im Alltagsleben keine Spuren sichtbar, bis auf die kleinen Gruppen junger Männer und Frauen in militärischen Tarnanzügen, die täglich auf der Straße zu sehen sind, alle frisch eingekleidet.“ Dennoch ist schon da der Krieg in der Ostukraine weniger als 100 Kilometer von Charkiw entfernt.
 

Die Gefechte 1943

Zeller beobachtet nicht nur das öffentliche Leben etwa auf dem „Platz des 23. August”, dessen Name an den Tag der Befreiung von der Wehrmacht im Jahr 1943 erinnert. Zeller ist auch auf persönlicher Spurensuche. Sein Onkel Hermann fiel am 14. August 1943 im Kampf an der Brauerei „Nowaja Bavaria“ in einem Feuergefecht mit der Roten Armee. Noch heute erinnert ein monumentaler Rotarmist, geformt aus Erz, an den Sieg über die deutschen Truppen. Bei Zellers Besuch weht eine gelbblaue Fahne am Maschinengewehr und Zeller schreibt: „Mein liebster Platz“.
 

Der deutsche Soldatenfriedhof

Auf seinen Gängen durch die weitläufige Stadt kommt der Autor auch zum deutschen Soldatenfriedhof. Hier ruhen die, die in den Kämpfen zwischen 1941 und 1943 um die Stadt Charkow (russisch für Charkiw) fielen: „So viel Grün um uns, ohne alles. Eine plane Wiese. Selten nur wird die Ruhe des Blicks unterbrochen durch schmale Stelen aus grauem Granit. Darin sind die Namen der mehr als dreiundzwanzigtausend Soldaten eingemeißelt, in alphabetischer Reihenfolge.“ Im Nachhinein schreibt Zeller, dass ihm dort erst die „verdienstvolle Arbeit“ des Volksbundes klar geworden sei. Eine Arbeit, die – wie so vieles jetzt – jäh unterbrochen ist.
 

Der Autor

Michael Zeller, geboren 1944 in Breslau, lebt als Schriftsteller heute in Wuppertal. Er hat zahlreiche Romane verfasst und war der erste Gast in der Literaturresidenz Charkiw auf Einladung des PEN-Zentrums. Im vergangenen Jahr erschien sein Buch „Die Kastanien von Charkiw – Mosaik einer Stadt“ im assoverlag Oberhausen (14 Euro). Auch in der Ukraine liegt es als Übersetzung vor (Maydan-Verlag Charkiw). In diesem Frühjahr erscheint von ihm die Erzählung „Abhauen! Protokoll einer Flucht“ im Verlag Rote Katze, Lübeck.
 

Harald John Abteilungsleiter Öffentlichkeitsarbeit