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Gedenken – 70 Jahre nach Auschwitz

Jugendbegegnung des Deutschen Bundestages

78 Jugendliche aus 13 verschiedenen Nationen wurden vom Deutschen Bundestag zu einer jährlich stattfindenden Jugendbegegnung anlässlich des Gedenktages der Opfer des Nationalsozialismus eingeladen. Es sind junge Erwachsene, die sich in der Erinnerungs- oder Antirassismusarbeit engagieren und mehr über die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 70 Jahren und die deutsche Besatzungspolitik in Polen sowie internationale Erinnerungskultur wissen wollen. Die Gruppe reiste nach Polen und Berlin um verschiedene Perspektiven und Ansichten zu diesem Thema kennenzulernen. Der Volksbund entsandte Flavia Citrigno (Ehrenamtliche im LV Niedersachsen) und Leonie Mayr (Freiwillige im FSJ-Politik im LV Hessen) zur Jugendbegegnung nach Berlin.

Der erste Teil unserer Reise führt uns per Flugzeug von Berlin nach Krakau und von dort weiter mit dem Bus nach Oswiecim, eine Kleinstadt, die viele von uns überraschte. Wenn wir an Auschwitz denken, denken wir an Vernichtung, Tod und Leid, nicht aber an die südpolnische Kleinstadt Oswiecim. Für viele von uns war Auschwitz ein abstrakter Begriff, wir hatten vorgeprägte Bilder im Kopf, Bilder der „Zentralsauna“, Bilder von Leichenbergen. Wir hatten vergessen, dass Auschwitz nicht einfach ein Lager war, entstanden im Nirgendwo. Das Vernichtungslager Auschwitz ist die ständig spürbare dunkle Wolke der Kleinstadt Oswiecim. Dies wurde uns bei der Führung durch die Stadt schlagartig bewusst. Oswiecims Geschichte beginnt nicht mit der Errichtung des Konzentrationslagers, sie beginnt über 800 Jahre zuvor. Die Stadt war im 15. Jahrhundert Heimat einer Bevölkerung, die größtenteils jüdisch war. Es gab sieben Synagogen, regen kulturellen Austausch, der Handel florierte. Heute gibt es keine jüdische Gemeinde mehr, der letzte Jude, der hier lebte, verstarb im Jahr 2000. Es gibt wenig Arbeitsplätze und wenig Perspektive. Oswiecim steht vor der Herkulesaufgabe, den Spagat zwischen Auschwitz-Birkenau und normalem kleinstädtischen Leben zu bewältigen.

Auf unserer Führung bleiben wir vor einer Ruine stehen. Tobi, ein junger Österreicher, der ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Stadt absolviert, erzählt uns von der Familie Haberfeld, die hier bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges eine Schnapsbrennerei betrieb. 1939 reisten Alfons und Felicia Haberfeld in die USA, um auf der Weltausstellung ihre Waren zu präsentieren. Währenddessen wurde Polen überfallen. Das Ehepaar konnte nicht mehr zurückkehren zu seiner Familie, seinen Kindern. Sie blieben in Amerika, während der Rest der Familie den Zweiten Weltkrieg nicht überlebte. Diese Ruine ist symbolisch für die Fragen, die sich uns in der Stadt stellen. Warum lässt man einen so geschichtsträchtigen Ort verfallen? Warum gibt es keine jüdische Gemeinde mehr in Oswiecim? Warum wurden die Synagogen nicht wieder errichtet? Im Keller des jüdischen Zentrums sehen wir Bilder von Menschen, die in Oswiecim zuhause sind. Wir sehen ein Kind, dass vor den Toren von Auschwitz-Birkenau auf Rollschuhen fährt, eine Nonne, die am Flussufer der Sola Federball spielt. Langsam fangen wir an zu verstehen, was es heißen muss an diesem Ort zu leben. Und wir erkennen, das Oswiecim ganz genau die gleichen Probleme hat, wie andere Kleinstädte auch und, dass die Zeit an solch einem Ort nicht stehen bleiben kann und besonders nicht stehen bleiben darf. Nach unserer Führung durch die Stadt und dem Besuch des jüdischen Museums entbrennt in der Gruppe die Diskussion, über die Erinnerungskultur in Polen. Dürfen wir als Deutsche diese Erinnerungskultur an Verbrechen, verübt von unseren Vorfahren, überhaupt kritisieren?

Vernichtungslager Auschwitz

Der nächste Tag soll die Sicht auf viele unserer Fragen sehr verändern. Wir brechen auf in das staatliche Museum Auschwitz-Birkenau. Wir wissen nicht, was uns erwartet, wie wir reagieren werden. Es ist ein bitterkalter grauer Januartag, der sehr gut zu unserer Vorstellung von Auschwitz passt. Die 78 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jugendbegegnung sind überwiegend Jugendliche, die von sich behaupten würden, sich mit dem Grauen und Schrecken der NS Zeit und des Holocausts auszukennen oder sich zumindest mit diesen Themen auseinandergesetzt zu haben. Nichtdestrotz werden wir blass, als wir durch das Stammlager Auschwitz I gehen. Wie gelähmt stehen wir vor den Vitrinen voll mit Haaren, Kinderschuhen oder Brillen, sehen die Baracken und Krematorien. Manche von uns fangen an zu weinen, andere überkommt die Scham. Nur wenige schaffen es, das Gesehene nüchtern und emotional distanziert zu betrachten. Am Nachmittag, als wir Auschwitz-Birkenau besuchen, fängt es an zu schneien. Dick eingepackt stapfen wir durch die matschigen Pfade und stellen uns vor, wie es wohl gewesen sein muss, hier vor 70 Jahren gelaufen zu sein. Wir können es uns nicht vorstellen, hier ohne Daunenjacke, Fellstiefel und Mütze zu stehen, sondern nur mit einem dünnen Häftlingsanzug bekleidet zu sein. Wir dachten, Auschwitz würde uns helfen die damalige Zeit und die Verbrechen des Nationalsozialismus besser zu verstehen, doch nach unserem Besuch in Auschwitz verstehen wir sie noch viel weniger als zuvor. Allerdings verstehen wir jetzt, warum es heutzutage keine jüdische Gemeinde mehr in Oswiecim gibt. Es muss schwer sein so nah an einem Ort zu leben, an dem das Verbrechen an den Juden so deutlich wird, wie sonst nirgendwo.

„Es war die Demütigung“

Das erste protokollarische Highlight der Jugendbegegnung ist am Montag den 26. Januar die Podiumsdiskussion mit Joachim Gauck, Norbert Lammert und dem Auschwitz-Überlebenden Marian Turski. Die Gruppe hat sich viele Fragen ausgedacht und sitzt gespannt im Europasaal des Deutschen Bundestages. Wir sind beeindruckt von der Offenheit mit der vor allem die Verfassungsorgane unsere Fragen beantworten und wie entspannt und unautoritär die Stimmung im Saal ist. Herr Gauck und Herr Lammert beantworten Fragen zu ihrer persönlichen Konfrontation mit dem Holocaust, aber auch zur aktuellen Flüchtlingssituation in Deutschland. Der Dritte, der sich unseren Fragen stellt, ist Marian Turski. Er wurde im August 1944 ins KZ Auschwitz deportiert und überlebte dort einen Todesmarsch ins Lager Birkenau. Heute ist er unter anderem Vorsitzender des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau und Mitglied des Internationalen Auschwitz Rates. Marian Turskis einleitende Worte sind bedrückend. Er sucht eine Antwort auf die Frage, was für ihn das Schlimmste an Auschwitz war. Es war nicht der Hunger, nicht die Kälte, es war die Demütigung. Er wendet sich mahnend an uns: Wenn heute jemand einen Juden, Bosnier, Türken, Israeli, Moslem oder Christen demütige, sei es so, als beginne Auschwitz von neuem. Starke Worte, die uns Jugendlichen zeigen, wie präsent Auschwitz auch heute noch ist und wie wichtig ein Bekämpfen von fremdenfeindlichen Strömungen jeglicher Art ist. Marian Turski verglich die Geschichte mit einem Staffellauf, in dem die Erinnerung der Staffelstab ist, der nun an unsere Generation weitergegeben wird.

Wie wird sich das Erinnern verändern?

Am nächsten Tag findet der abschließende Höhepunkt der Begegnung statt. Wir sind eingeladen, an der offiziellen Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag anlässlich des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus teilzunehmen. Dieses Jahr wird kein Zeitzeuge sprechen, obwohl Marian Turski im Saal ist. Das Protokoll sieht vor, dass jeder Bundespräsident einmal in seiner Amtszeit die Rede am 27. Januar hält. Das ausgerechnet in einer Zeit, in der wahrscheinlich nicht mehr lange die Möglichkeit besteht von Zeitzeugen zu hören, dass Joachim Gauck die Rede hält, finden wir ungeschickt. Viele von uns sind ausgelaugt und müde vom harten Programm der letzten Woche und kämpfen vor Beginn der Veranstaltung in den gemütlichen blauen Sitzen des Plenarsaals gegen den Schlaf. Doch spätestens als Joachim Gauck beginnt seine Rede zu halten, sind wir hellwach. Es ist eine starke Rede, die den Blick ausgehend von Auschwitz und den nationalsozialistischen Verbrechen auf die aktuellen Konflikte, wie Syrien lenkt. Gauck macht deutlich, dass er keine Sorge hätte, dass die Enkel- und Urenkel Generation der Täter und Opfer des NS-Regimes das Interesse an der deutschen Vergangenheit verlieren würde, wies aber gleichzeitig auch darauf hin, dass sich das Erinnern und das Gedenken verändern würden. Worte, denen wir in Anbetracht der aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung, laut welcher 58 Prozent der Deutschen einen Schlussstrich unter den Holocaust ziehen wollen, gerne glauben würden. Die Zahlen dieser Studie schockieren uns, die wir noch die Bilder aus Auschwitz und die Worte von Marian Turski im Ohr haben.

Nach unserer anschließenden Teilnahme an der Eröffnung der zwei im Paul-Löbe Haus ausgestellten Ausstellungen „Der Tod hat nicht das letzte Wort“ und „Zeichnen gegen das Vergessen“, geht die 19. Jugendbegegnung zu Ende. Wir sind traurig Berlin zu verlassen, da die Gruppe stark zusammengewachsen ist und sich viele Freundschaften entwickelt haben. Allerdings freuen wir uns auch sehr auf etwas Ruhe, um das Erlebte verarbeiten zu können und auf unsere Betten, um den verpassten Schlaf der letzten sechs Tage nachholen zu können.

 

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