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„Back to the roots“

JAK-Pfingstzelten in Lommel

58 Mitglieder der Jugendarbeitskreise (JAK) des Volksbundes folgten der Einladung von JAK Niedersachsen und Jugendbegegnungsstätte (JBS) Lommel und kamen zu Pfingsten nach Lommel in Belgien. Denn dieser Ort hat für sie eine besondere Bedeutung: Vor 60 Jahren trafen sich hier das erste Mal junge Menschen aus Deutschland und Belgien, um gemeinsam Pflegetätigkeiten auf der deutschen Kriegsgräberstätte Lommel zu leisten. So lautete das Motto: „Back to the roots“, zurück zu den Wurzeln – der Jugendarbeit.

So war das Interesse der JAK-Mitglieder groß, mehr über Auftakt und Entwicklungslinien der Volksbund-Jugendarbeit zu erfahren. Geholfen haben dabei die beiden Zeitzeugen Helmut Harneit, Teilnehmer am Jugendlager Lommel 1955, und Dirk Huysmans, Teilnehmer an den Jugendlagern Salzgitter 1970er-Jahre. In ihren Erzählungen bestätigten beide, dass die Teilnahme sie in ihrer Offenheit gegenüber anderen Nationen und ihrem interkulturellem Verständnis gestärkt hat. (Lesen Sie dazu auch die unten angehängten Zeitzeugenberichte.)

Im weiteren Gespräch mit den Zeitzeugen stellten die Jugendlichen dann fest, dass Weiterentwicklungen nicht nur begrifflich – vom „Jugendlager“ zum „Workcamp“ oder auch der „Jugendbegegnung“ – sondern vor allem programmatisch stattgefunden haben. Projekte der historisch-politischen Bildung nehmen heute einen festen Platz in jeder schulischen oder außerschulischen Maßnahme ein. Davon überzeugten sich alle Beteiligten bei einem geführten Rundgang über die Kriegsgräberstätte. Karsten Conaert, Mitarbeiter der Jugendbegegnungsstätte Lommel, wies darauf hin, dass insbesondere die biografische Betrachtung des einzelnen Toten eine Spannung erzeugt und zugleich Diskussionsbedarf in sich birgt. Oder können Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auf Anhieb erklären, warum auf der deutschen Kriegsgräberstätte Lommel ein kroatischer Soldat muslimischen Glaubens bestattet ist?   

Geschichte kann also sehr spannend und konkret sein. Zudem sind gegenwärtige Konfliktlagen oftmals historisch begründet, so dass hier zahlreiche Bezüge zu aktuellen Themen gegeben sind. Auch das Thema Menschenfeindlichkeit lässt sich in diesen Zusammenhang einordnen und ist Gegenstand der Aktion „JAKtiv - Wir zeigen Gesicht!“. Die Verantwortlichen möchten damit Jugendliche und Erwachsene auf diskriminierendes und intolerantes Verhalten in unserer Gesellschaft aufmerksam machen. Jeder kann jetzt ein Zeichen dagegen setzen. Mehr Informationen finden sich hier: www.volksbund.de/jaktiv

Großen Anklang bei allen Teilnehmenden fand die gemeinsame Gedenkaktion auf der Kriegsgräberstätte Lommel. In Anlehnung an ein buddhistisches Ritual wurden dabei bunte Fähnchen mit Gedanken und Wünschen der Teilnehmenden gestaltet und auf einem Faden aneinander gereiht in einen Baum gehangen. Valeska Schimmelpfennig aus Celle beispielsweise formulierte den Wunsch: „Nie wieder Krieg“. Angesichts der etwa 39 000 Gräber und dem Wissen, dass auch gegenwärtig Konflikte gewaltsam gelöst werden, hat dieser Spruch leider nicht an Aktualität verloren.

Kriegsgräberstätten sind Mahnmale gegen Krieg und Gewaltherrschaft. Die jungen Aktiven im Volksbund sind sich dessen bewusst. Mit ihrem ehrenamtlichen Engagement möchten sie auch in Zukunft Mitstreiter gewinnen, die Geschichte des 20. Jahrhunderts kritisch hinterfragen, Bezüge zur Gegenwart herstellen, Projekte und Aktionen kreieren sowie die Öffentlichkeit über Ergebnisse informieren.

Damit ist die Jugendarbeit des Volksbundes auch zukünftig ein Garant für lebendige Erinnerungs- und Gedenkkulturen in Europa! 

Jörg Schgalin

 

60 Jahre Jugendarbeit – Jugendliche befragen Zeitzeugen

Mittlerweile ist es gute Tradition, dass sich die Jugendarbeitskreise der Landesverbände über das Pfingstwochenende zum gemeinsamen Zelten, Diskutieren, und Gedenken aber auch zum Spaß haben treffen. Und der Ort des diesjährigen „PfiZe“ der „JAKies“ hätte nicht besser gewählt werden können: Vor 60 Jahren kamen auf der deutschen Kriegsgräberstätte im belgischen Lommel erstmals Jugendliche unter dem Motto „Versöhnung über den Gräbern“ zusammen, um einen Teil ihrer Ferien gemeinsam mit Bau- und Pflegearbeiten zu verbringen.

Zu Pfingsten 2013 folgten nun 58 Jugendliche und junge Erwachsene aus ganz Deutschland der Einladung des Jugendarbeitskreises Niedersachsen in die nordbelgische Kleinstadt. Mit Hilfe der Mitarbeiter der Jugendbegegnungsstätte Lommel ging es auf eine spannende Zeitreise zurück zu den Anfängen der Jugendarbeit. Im nun folgenden Bericht werden die Ergebnisse eines Workshops dargestellt, der unter anderem die Befragung ehemaliger Teilnehmer früherer Jugendlager zum Ziel hatte.

Helmut Harneit, ein Helfer der ersten Stunde. Er berichtete von seinen Erfahrungen aus dem Jahre 1955, die er gemeinsam mit internationalen Jugendlichen auf der gerade im Aufbau befindlichen Kriegsgräberstätte Lommel gesammelt hat. Der sympathische 81-Jährige berichtete zunächst lebhaft über seine Kindheit im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit. Hierbei erinnerte er sich auch an den Bergen-Belsen-Prozess in Lüneburg seiner Heimatstadt im Herbst 1945, welchen er aufmerksam im neu gegründeten Nordwestdeutschen Rundfunk verfolgte. Infolgedessen zerbrach sein damaliges, von den Nationalsozialisten geprägtes Weltbild.

Sichtlich bewegt, erzählte er über seine erste Erfahrung mit dem Nationalsozialismus als 6-Jähriger:  Am 9. November 1938 kam ein uniformierter Mann in seine Schulklasse und nahm eine Mitschülerin mit. Seine Lehrerin weinte, seine Kameraden schwiegen. Erst später erfuhr Helmut, dass sie aufgrund ihrer jüdischen Religion in ein Konzentrationslager verschleppt worden war. Helmut selbst verstand sich in dieser Zeit als begeisterter Anhänger des Nationalsozialismus. Er trat als 10-Jähriger in das so genannte Jungvolk ein und stand kurz vor der Aufnahme in eine der elitären Adolf-Hitler-Schulen. Doch 1943 bat ihn sein Vater in einem Feldpostbrief, ohne nähere Begründung, durch die Aufnahmeprüfung zu fallen, was Helmut auch folgsam tat.

Durch die Radioreportagen zum Bergen-Belsen-Prozess wurde ihm im Herbst 1945 das ganze Ausmaß der menschenverachtenden NS-Ideologie offenbar und er begann, Fragen zu stellen. Doch weder seine Lehrer, der örtliche Pastor, noch andere Erwachsene konnten oder wollten ihm seine Fragen beantworten. Auch sein Vater, der  Berufssoldat war, zeigte sich in Bezug auf dieses Thema Zeit seines Lebens verschlossen.

Mit dem Volksbund kam Helmut 1955 in Kontakt. Nach seiner Ausbildung erhielt er eine Anfrage des Lüneburger Regierungspräsidenten, am Jugendlager Lommel teilzunehmen. Helmut nahm diese Möglichkeit gerne an, da er an einer Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit interessiert war. Bestärkt wurde er ein Jahr zuvor durch ein negatives Erlebnis: Bei einer Fahrradreise durch Dänemark bekam er den Hinweis, seinen Wimpel in den Farben Schwarz, Rot, Gold vom Fahrrad zu entfernen. Auf die Frage warum, erhielt er die Antwort: „Zum eigenen Schutz“. Zu stark war die Erinnerung der dänischen Bevölkerung an das Leid, welches die deutsche Besatzung in den Jahren 1940 bis 1945 angerichtet hatte. Deutsche Symbole wurden also zu dieser Zeit als Provokation im Ausland verstanden. 

Im Sommer 1955 nahmen Helmut und andere internationale Jugendliche am Jugendlager Lommel teil, um grundlegende Arbeiten an der Kriegsgräberstätte auszuführen. Wichtigste Aufgabe war die Aufschüttung eines Erdwalls. Dieser sollte dann das Gräberfeld und die Anpflanzungen darauf vor Flugsand schützen. Ein Freizeitprogramm im heutigen Sinne gab es damals nicht; eine ganze Woche lang wurde gearbeitet. Dabei kam der Spaß dennoch nicht zu kurz. Als abenteuerlich kann zudem die spartanischen Ausrüstung des Camps bezeichnet werden: Statt in einer festen Unterkunft wurde in Zelten genächtigt; zum Waschen gab es einen kleinen See und gekocht wurde in einem Bretterverschlag. Als Dank und Anerkennung für die geleistete Arbeit fuhren die Teilnehmer des Camps mehrere Tage durch Belgien - Sightseeing. 

Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem deutsch-belgischen Verhältnis fand während der Begegnung nicht statt. Die internationalen Teilnehmer hatten wenig Kontakte zu den Menschen vor Ort; ein alleiniger Besuch der Stadt Lommel wurde den deutschen Teilnehmenden untersagt. Dieses Verbot ist als Resultat des Zweiten Weltkriegs zu verstehen. Wie Dänemark war auch Belgien von der deutschen Seite überfallen, besetzt und terrorisiert worden. Angst und Misstrauen waren zu dieser Zeit groß; unangenehme historische Tatsachen wurden nicht ausgesprochen und ein Miteinander konnte nur im Camp selbst verwirklicht werden.  

Helmut wurde nach seiner Teilnahme zuständiger Sachbearbeiter für Kriegsgräberstätten im Regierungsbezirk Lüneburg; gestaltete mit dem Stadtjugendring Lüneburg eine Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag und förderte nach dem Fall der Berliner Mauer die neu entstandene deutsch-polnische Städtepartnerschaft Lüneburg-Wagrowiec. Im Jahre 1996 wurde er in Anerkennung seines Engagements und seiner Projekte im versöhnenden Sinne zum Ehrenbürger der Stadt Wagrowiec ernannt.

Nicht weniger interessant waren anschließend die Erläuterungen von Dirk Huysmans, einem waschechten Lommeler, der im Alter von 16 Jahren das erste Mal an einem Jugendlager in Niedersachsen teilnahm. Auf die Idee gebracht hatte ihn seine Mutter, die damals im Fremdenverkehrsbüro in Lommel arbeitete und die Kriegsgräberstätte Lommel sowie den Jugendaustausch des Volksbundes kannte. Gemeinsam mit einem Schulfreund machte sich Dirk im Sommer 1971 mit der Bahn in Richtung Salzgitter in Niedersachsen auf. Bis zu diesem Zeitpunkt besaß er keinerlei Erfahrung mit der Versöhnungs- und Friedensarbeit des Volksbundes.

Dirk schilderte uns, dass die Teilnehmer aus Belgien, Italien, Frankreich, England und Deutschland kamen. Die Verständigung zwischen den Jugendlichen erfolgte in verschiedenen Sprachen. Die sprachlich talentierten Belgier waren dabei gern genutzte Übersetzter und somit an vielen Gesprächen direkt oder indirekt beteiligt. Anfang der 1970er-Jahre war es ebenfalls normal, in Zelten untergebracht zu sein. Das Essen kam aus der Gulaschkanone der Bundeswehr. Schmunzelnd erzählte uns Dirk, dass das überreichliche Essen nicht selten mit der örtlichen Jugend gegen Bier getauscht wurde. Die Pflegetätigkeiten auf der Kriegsgräberstätte fanden nur am Vormittag statt; die Nachmittage standen im Zeichen von Sport und Spiel. Auch nahmen an diesem Camp Mädchen teil.

Unser Zeitzeuge erinnerte sich weiter, dass er sich durch die internationale Ausrichtung der Jugendbegegnung sehr schnell seiner Vorurteile über andere Nationen bewusst wurde – und diese schließlich überwand. Dazu gehörte auch die Vorstellung, dass alle Deutschen während des Zweiten Weltkrieges überzeugte Nationalsozialisten waren und ihnen damit vermeintlich ein bösartiges Wesen unterstellt werden konnte. Dass das NS-System einen stark manipulativen Charakter hatte, viele Deutsche von der Ideologie nur wenig überzeugt – so genannte Mitläufer – und einige Wenige dagegen offen Widerstand leisteten, erfuhr er erst aus den Gesprächen mit den anderen Teilnehmern.    

Ein Jahr später, 1972, nahm Dirk erneut mit seinem Freund am Jugendlager Salzgitter teil. Bei dieser Begegnung hinterließ die Busfahrt durch die Deutsche Demokratische Republik und der Besuch Westberlins eine große Beklemmung. So erinnerte sich er daran, die Berliner Mauer als Symbol der deutsch-deutschen Teilung mit Unverständnis und Fassungslosigkeit gesehen zu haben. Im Unterschied zum Camp von Helmut gab es keine Berührungsängste der Teilnehmenden mit der Bevölkerung vor Ort. Im Gegenteil: Der Besuch Hamburgs einschließlich der Reeperbahn war wenig bedrohlich, gab er augenzwinkernd zu.

Rückblickend erläuterte uns Dirk, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg auch Anfang der 1970er Jahre noch nicht Bestandteil des Camp-Programms war. Es wurde allerdings viel unter den Teilnehmenden diskutiert, nicht zuletzt ein Ausdruck des Lebensgefühl der 68er-Generation: Skepsis gegenüber Autoritäten und Führungen jeglicher Art, Proteste gegen den Vietnam-Krieg, Fragen zu NS-Verbrechen und deren Aufklärung sowie vieles, vieles mehr. Bis heute ist das Zusammenwirken von belgischen Staatsbürgern mit dem deutschen Besatzungsapparat im Zweiten Weltkrieg und der Beteiligung von belgischen SS-Einheiten am deutschen Eroberungs- und Vernichtungskrieg in Osteuropa nur wenig öffentlich diskutiert worden.

Helmuts und Dirks gemeinsame Botschaft, sich Fremden nicht zu verschließen und durch gemeinsame Unternehmungen, das Verständnis füreinander zu fördern, war, ist und bleibt eine wichtige Funktion der heutigen Workcamps des Volksbundes. Die vielen Gespräche unter den Volksbund-Jugendlichen nach dem Workshop beweisen, dass eine Reflektion der 60-jährigen Jugendarbeit spannend ist – und sich lohnt.

Wir danken Helmut und Dirk für ihre Offenheit im Gespräch und ihr Interesse an unserer Arbeit.

Kathrin Grimm und Arne Nötte