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Gemeinsam erinnern:

Vier junge Volksbundmitglieder nehmen an der Jugendbegegnung des deutschen Bundestages zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus teil

80 Jugendliche aus 9 Ländern – aus Belarus, Deutschland, Frankreich, Österreich, Polen, Russland, der Schweiz, der Ukraine und den USA – folgen im Frühjahr 2013 der Einladung des Deutschen Bundestages nach Kiew und Berlin anlässlich des Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. In ihrer Freizeit engagieren sie sich in Gedenkstätten oder setzen sich gegen den Rassismus ein – in ihren Ferien wollen sie sich nun mit dem Thema „Osteuropa als Ort nationalsozialistischer Verbrecher: Besatzung, Zwangsarbeit und Völkermord in der Ukraine" auseinandersetzen, Meinungen austauschen und einen Einblick in die Gedenkkultur des anderen gewinnen. Krönender Abschluss soll die zentrale Gedenkstunde im Bundestag mit der deutsch-israelischen Schriftstellerin Inge Deutschkron sein.

Der lange Weg nach Kiew

Kälte, Tschernobyl, Juschtschenkos Vergiftung, Timoschenkos Haft, korrupte Polizisten, sowjetische Bauten – es wimmelt von schlechten Dingen, als wir zu Beginn in der Kleingruppe nach dem gefragt werden, was wir von der Ukraine zu wissen glauben. Wir sind in Bonn, die erste Station unserer gemeinsamen Bildungsreise. Die Gruppenleiterin lacht: Es ist wirklich Zeit, dass wir in die Ukraine fahren.
Tags darauf am Flughafen bangt man schon um die Reise. Durch den Streik des Bodenpersonals verzögert sich der Flug, doch unbehelligt dessen stehen wir nach vier Stunden Warten und zwei Stunden Flug gespannt und frischen Mutes in Kiew am Flughafen.

Als eine Teilnehmerin von einem Zollbeamten gefragt wird, warum sie in die Ukraine reist, und sie das Wort „Holocaust" ausspricht, schüttelt der Zollbeamte den Kopf. Vielleicht hat die Geste nichts zu bedeuten, vielleicht drückt sie aber genau das aus, was vielen Teilnehmern bis dato nicht bekannt war: dass das Thema "Holocaust" in der Ukraine zum Teil noch Tabu ist. Schon vor der tatsächlichen Einreise also eine Geste, die uns, rückblickend betrachtet, auf die vielschichtige Erinnerungslandschaft in der Ukraine einstimmt. Dass an vielen Massenerschießungsplätzen von Juden die Sowjetunion - wenn überhaupt – nur solche Schilder anbringen ließ, die den Tod von "friedlichen Sowjetbürgern" bedauern, ist etwas, das wir nicht vergessen werden.

Holocaust und Holodomor

Der erste Tag in der Ukraine steht unter dem Titel der staatlichen Erinnerungspolitik. Wir gehen in das "Museum des Großen Vaterländischen Krieges", dessen Name Bände spricht. Heroische Statuen von Arbeitern und Bauern in martialischem Stil, daneben sowjetische Panzer und Kanonen, aus Lautsprechern kommen Siegesgesänge, auf dem Dach thront eine meterhohe Frau mit erhobenem Schwert und Schild, Mutter Heimat. Dann der Gang in das Museum: Eine riesige Halle, die den Namen "Ergebnis des Großen Vaterländischen Krieges" trägt: Ein großer Stahlukrainer, in seiner Nationalflagge eingehüllt, schaut auf den deutschen Reichsadler, der klein und mickrig auf dem Boden liegt, mit zerstückelten Flügeln und von Steinen zerdrücktem Körper. Viele Teilnehmer finden das seltsam, irgendwie falsch, das ist Genugtuung, Schadenfreude. Aber es ist schwierig, die eigenen Gedanken einzuordnen und abzugrenzen: Ist es grenzüberschreitende Vernunft, dass man das Ergebnis eines Krieges nicht so darstellen kann? Oder sind das Gedanken, die dem Volk der Verlierer vorbehalten sind? Warum wird das Leid des Krieges nicht dargestellt? Warum wird nie von Ukrainern, sondern nur von Sowjetbürgern gesprochen? Man gelangt schnell zur Erkenntnis, dass die sowjetische Herrschaft auch auf die Erinnerungskultur in der postsowjetischen Ukraine lange Schatten wirft. Gleichzeitig wird das Bedürfnis spürbar, weder die Geschichte noch die Geschichten der Menschen zu verurteilen und vor allem nicht ihr Umgang damit.

Neben Betroffenheit und Emotion wirft auch das Holodomor-Denkmal, das zentrale Mahnmal für die von Stalin initiierte Hungersnot in den Jahre 1932/33, Fragen aller Art auf: Warum haben die Verbrechen des Stalinismus nicht den Einzug in deutsche Lehrpläne geschafft? Bis wohin darf man Holodomor und Holocaust vergleichen? Was sind die politischen Interessen hinter der Wiederbelebung des Themas Holodomor in der ukrainischen Öffentlichkeit?

Am nächsten Tag fahren wir nach Babyn-Jar, in die "Weiber-Schlucht". Hier erschossen die Nationalsozialisten am 29. und 30. September 1941 rund 34.000 Juden aus der Stadt. Als wir ankommen, ist völlig unklar, wo was war. Das Gelände wird als Park genutzt, Kinder fahren Schlitten, es gibt eine U-Bahn-Station. Unwillkürlich drängt sich der Vergleich in unsere Köpfe: Würde man in Auschwitz, unmittelbar auf dem Gelände, Schlitten fahren? Würde man dort eine U-Bahn-Station bauen?
Hier und da gibt es Denkmäler, klein, zerstreut, alle zu verschiedenen Zeiten erbaut und verschiedenen Opfergruppen gewidmet: den toten Sowjetbürgern, den Partisanen, den Sinti und Roma, den Kindern und den Juden.
Dieser Ort, so nüchtern und funktional gehalten wie das „Museum des Großen Vaterländischen Krieges" martialisch und monumental war, wirft wieder die Frage nach unserem Zugang zu Geschichte in den Raum.

Eine Begegnung in der Verschiedenheit

Das Programm der Begegnung ist intensiv: Nach dem Besuch der geschichtsträchtigen und denkwürdigen Orte sprechen wir mit Zeitzeugen über Massenerschießungen in ukrainischen Dörfern, über Zwangsarbeit und die Besatzungszeit. Eine Konfrontation mit der unvorstellbaren Grausamkeit der nationalsozialistischen Verbrechen ist für uns sehr aufwühlend, sodass großer Diskussions- und Austauschbedarf besteht. Viele Fragen, die im großen Plenum nicht geklärt und in den betreuten Kleingruppengesprächen viel zu kurz kommen, bleiben unbeantwortet. Auch die Podiumsdiskussion im Goethe – Institut sorgt eher für Unklarheiten – gut, dass es beim anschließenden Empfang die Möglichkeit zu regen Gesprächsrunden gibt, die den Blick für die Gedenkkultur des anderen schärfen und vor allem für einen wertungsfreien Umgang damit.

Nach intensiver Beschäftigung mit der Vergangenheit der deutsch-ukrainischen Geschichte steht ein Besuch in der deutschen Botschaft mit einem Briefing zu aktuellen zwischenstaatlichen Beziehungen an. In lockerer Atmosphäre vermittelt der Vertreter der Botschaft einen knappen Überblick über deren Entwicklung in den letzten 20 Jahren und beantwortet auch Fragen zur aktuellen politischen Situation in der Ukraine verständlich. Vor allem die ukrainischen und weißrussischen Teilnehmerinnen sind beeindruckt, wie offen er über die politische Spaltung in Ost- und Westukraine und den Fall Julija Timoschenko spricht.

„Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit"

So schnell, wie wir angereist sind, so zügig müssen wir das spannende Land wieder verlassen, denn am nächsten Tag findet die Gedenkstunde in Berlin statt. Hauptrednerin ist Inge Deutschkron, eine der 1700 Berliner Juden, die die Nazi-Herrschaft überlebt haben, weil Nichtjuden sie versteckt haben. Inge Deutschkron spricht von den Schuldgefühlen, die mit dem Überleben einhergehen; von der Sprachlosigkeit, wenn man ihr nahelegt, sie müsse doch auch vergessen und vergeben können; und schließlich von dem, was sie als ihre Pflicht betrachtet: „Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit [niederschreiben]. Ich […] war wie besessen von der Idee, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe. Dass Menschen anderen Menschen das Recht auf Leben streitig machen könnten […] Und um dieses Zieles wegen gilt es, die Wahrheit zu wissen, die ganze Wahrheit. Denn solange die Frage Rätsel aufgibt, wie konnte das Fürchterliche geschehen, ist die Gefahr nicht gebannt, dass Verbrechen ähnlicher Art die Menschheit erneut heimsuchen."
Davor trägt der Kantor Issac Sheffer ein traditionelles Gesanggebet vor, in dem die Namen einiger Konzentrationslager eingebettet wurden.
Großes Schweigen …

„Zeugen von Zeugen von Zeugen" sein

Dann, lebhafte Diskussionen: ZDF und ARD haben sich geweigert, die Gedenkstunde auszustrahlen. Im ARD konnte man sich im Zeitfenster der Gedenkveranstaltung an Muschel-Risotto erfreuen. Wie soll diese "Generation von Zeugen von Zeugen", von der Norbert Lammert, Elie Wiesel zitierend, sprach, gebildet werden, wenn die Gedenkstunde nicht öffentlichkeitswirksam ist? Wenn an der Gedenkveranstaltung nur Menschen teilnehmen, die entweder Opfergruppen angehören oder ohnehin sensibilisiert sind, wie es die die Teilnehmer der Jugendbegegnung sind, die sich alle - durch FSJ, BFD oder Vereinsarbeit - mit Geschichte und Gedenken beschäftigen? Was nützt Gedenken, wenn es privatisiert wird? Wenn die breite Öffentlichkeit keinen Zugang hat? Wenn Quoten entscheiden, was man ihr vorsetzt?
Während unsere Köpfe brummen, demonstrieren, nur einige Meter weiter, Ägypter vor dem Paul-Löbe-Haus, es geht um die Frage der Achtung von Minderheitenrechten und der Religionsfreiheit. Es ist ein anderes Land, eine andere Geschichte, eine andere Zeit; wenn wir eines in der Ukraine gelernt haben, dann ist es die Gefahr von Vergleichen. Und doch spannt sich gewissermaßen der Bogen der Geschichte. Die Wörter von Pater Desbois hallen nach: Ein Krieg ist noch nicht zu Ende, solange nicht alle Kriegsopfer begraben wurden.

Manon Cavagna, Franziska Hammerl, Lina Berg

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