Volksbund Logo Desktop Volksbund Logo Mobil
Gräbersuche Mitglied werden Jetzt spenden Spenden

Ein langer Weg

Reise nach Polen und ins ehemalige Ostpreußen

Mehr als 2000 Kilometer, über 30 Mitreisende, dutzende Stationen und ein gemeinsames Ziel: Frieden. Wollte man die Intentionen der Teilnehmer der Volksbund-Busreise durch Polen, das Frische Haff, die Kurische Nehrung bis nach Königsberg (Kaliningrad) und zurück über Masuren etwas pathetisch beschreiben, wäre dies wohl eine Möglichkeit. Und doch lässt sich diese Reise ins ehemalige Ostpreußen nur schwerlich auf wenigen Seiten wiedergeben. Man hätte dabeisein sollen.

Die zehntägige Busreise in die Vergangenheit startete Ende Juli 2013 in Berlin. Doch das stimmt schon gleich in vielerlei Hinsicht nicht so ganz: Manche Teilnehmer beschäftigen sich schon lange, teils über Jahrzehnte mit der Idee, dorthin zu reisen. Einmal da sein, wo sie selbst oder ihre Eltern geboren wurden und lebten – oder liebe Angehörige im Zweiten Weltkrieg starben. Doch irgendetwas anderes hatte stets Vorrang gehabt. Zunächst fehlte schlicht die Zeit, vielleicht auch das Geld. Später, in Zeiten des Eisernen Vorhangs, mangelte es für viele an der tatsächlichen Möglichkeit, gen Osten reisen zu können. Wenn in späteren Jahren dann die Gesundheit nicht mehr so ganz mitspielte, konnte es passieren, dass man den Gedanken an diese Reise wieder komplett verwerfen musste. Dazu kommen noch diese Ungewissheit, die Fragen: Werde ich all das gut verarbeiten? Welche Gefühle erwachen in mir nach so langer Zeit am Grab meiner lieben Angehörigen?

Zwei Gedenkfeiern

Der Volksbund kennt diese Problematik. Um den Angehörigen der Kriegstoten zu helfen und gleichzeitig die Besuche auf den Kriegsgräberstätten zu fördern, organisiert er in Zusammenarbeit mit kompetenten Partnern spezielle Reisen. Kolberg, Danzig, Königsberg, Pillau, Sensburg, Thorn – all diese Ziele können sie auch mit anderen Reiseunternehmen erreichen. Die Kriegsgräberstätten als eindringliche Spuren der deutschen Vergangenheit, die sich oft nicht weit entfernt der großen Touristenströme befinden, werden dabei aber meist links liegen gelassen. Nicht so bei den Volksbund-Reisen. Hier sind gleich mehrere Gruppen- oder auch Privatbesuche von Kriegsgräberstätten fest eingeplant. In Königsberg und Bartossen sind aufgrund des zehnjährigen Bestehens der Anlagen sogar kleinere offizielle Gedenkzeremonien anberaumt.

Das Schöne vergangener Tage

Tatsächlich finden sich unter den Gästen durchaus unterschiedliche Interessen. Während die Mehrzahl den Schwerpunkt der Reise in einem der Besuche deutscher Kriegsgräberstätten sieht, auf denen ihre Angehörigen ruhen, ist es für andere eher ein touristisch-historischer Ausflug. Manchmal ist es auch eine Reise in die eigene Vergangenheit, die verlorene Heimat. Kritiker bezeichnen dieses Phänomen gerne als Sehnsuchts-Tourismus. Dabei wird längst akzeptiert und aufgrund der speziellen Andersartigkeit teils sogar geschätzt, dass die genannten ehemaligen deutschen Gebiete heute auf polnischem und russischem Hoheitsgebieten liegen. Es ist nur menschlich, sich auch an das Schöne vergangener Tage zu erinnern. So sieht es auch Reiseleiter Hermann Georgi. Und wenn man ihn später fragt, was für ihn an der Reise am wichtigsten war, sagt er ganz bescheiden: „Dass alle zufrieden sind!“

Ein wenig Melancholie ist auch dabei, sicher. Vor allem, wenn auf den Fahrten zwischen den einzelnen Besichtigungen passende Lieder wie „Ännchen von Tharau“, „Es dunkelt schon in der Heide“ und zahlreiche literarische Erinnerungen aufgefrischt werden. „So zärtlich war Suleyken, Masurische Geschichten“ von Siegfried Lenz oder „Jokehnen“ und „Sommer vierundvierzig“ von Arno Surminski – diese Werke zeichnen ein Bild des vergangenen Masuren oder Ostpreußen. „Heute ist davon nicht mehr viel zu sehen und auch die Menschen sind anders, als sie in den Geschichten geschildert werden“, stellt der 33-jährige Benjamin Barnewski aus Berlin objektiv fest. Er begleitet als jüngster Teilnehmer seine Großeltern Waltraut und Fred Ziemann.

Kindheit im Krieg

Ohnehin gibt es da auch die schlechten Erinnerungen. Und die sind meist sogar noch langlebiger. Dr. Eckhart Jander haben sie so lange beschäftigt, bis er sie aufgeschrieben hat. Drei Bände sind es geworden. Nach seiner Pensionierung begann er das Werk, schrieb zehn Jahre daran. Unter dem Titel „Zilpzalp im Weidenlaub – Ein Lebensroman“ beschreibt der Pädagoge seine eigene Kindheit. Hunger, Bombennächte sowie seine traumatischen Erlebnisse während der Flucht aus Ostpreußen spielen dabei eine große Rolle. Es war eine Kindheit im Krieg. Auch im Reisebus liest der gebürtige Königsberger seinen Mitreisenden einige Passagen daraus vor. Sie handeln davon, wie er als Kind auf der Flucht bei Pillau einem so genanten KZ-Todeszug begegnet: „Es nähert sich aus schier unendlicher Ferne auf einer geraden Chaussee ein Menschenzug ... Es sind in Lumpen gekleidete Menschen, zunächst nur Frauen, ein langer Zug. Die Frauen gehen in einer Kolonne, vier oder fünf nebeneinander in jeder Reihe. Halten sie sich an den Händen? Nein, das scheint nur so. Aber sie greifen zu, wollen stützen, wenn eine schwankt. Das nutzt nichts. Die Bewacher schlagen mit dem Gewehrkolben dazwischen, sie schreien, sie stoßen, die Frauen bleiben stumm.“

Der Tag, von dem Dr. Jander hier berichtete, war auch der Tag, als die Wilhelm Gustloff unterging. Zeitgleich wurde der oben beschriebene Todeszug aus jüdischen Mitmenschen in der gleichen Nacht vor Palmnicken, 150 km Luftlinie entfernt, von der SS aufs Eis getrieben und erschossen.

Abschied nehmen

Auch solche Erlebnisse begleiten die Reisegruppe auf ihrer Busreise. Ähnlich beklommen ist auch die Stimmung etwa beim Besuch der Wolfschanze, wo vor nunmehr fast 70 Jahren ein gelungenes Attentat womöglich Millionen Menschenleben gerettet hätte. Zugleich vermischen sich das Wissen und die Kenntnis der Kriegsgräuel mit dem ehrenden Gedenken der eigenen Angehörigen. Auf der Kriegsgräberstätte in Königsberg, der ersten offiziellen Gedenkfeier dieser Reise, steht dagegen das Abschiednehmen im Vordergrund.

So ergeht es auch Herbert Spies. Ganz ergriffen steht er vor dem schlichten Holzkreuz, mit dem Volksbund-Mitarbeiter die exakte Grablage seines Vaters Fritz Spies markiert haben. Es ist ein einsamer Moment, in dem er innerlich Abschied nimmt von dem Vater. Und doch ist er nicht alleine. Nur wenige Meter neben diesem Grab stehen weitere Holzkreuze, davor Angehörige im Gebet, versunken in eine ganz eigene Gedankenwelt. Tränen lassen sich in solchen Momenten nur schwerlich unterdrücken. Warum auch?

Wille zum Frieden

Die Menschen, die hier vom Volksbund im vergangenen Jahrzehnt begraben wurden, sind schon lange tot. Ihre Geschwister sind inzwischen längst ergraut, auch die Kinder, von denen manche den eigenen Vater niemals kennenlernen durften. Heute sind sie alle auf der deutschen Kriegsgräberstätte – und doch jeder mit seinem persönlichen Schicksal für sich allein. Einzig der Wunsch nach und der Wille zum Frieden sind allen gemein – auch den hochrangigen Gedenkrednern wie der Außenministerin der Kaliningrader Gebietsregierung und den Vertretern der Konfessionen, welche die würdige Gedenkveranstaltung mitgestalten.

Einer der Gedenkredner sitzt gleich mitsamt Ehefrau Marianne und Tochter Thela im Bus. Es ist der niedersächsische Volksbund-Landesvorsitzende Prof. Rolf Wernstedt. Wie viele der Mitreisenden hat auch er einen Angehörigen im Zweiten Weltkrieg verloren. Sein Vater Wilhelm Gericke starb am 5 August 1944 und ist heute in Block 6 des Sammelfriedhofes im polnischen Bartossen begraben.

Drei Bedeutungen

Auch in Königsberg hält der ehemalige niedersächsische Landtagspräsident die Gedenkrede. Dabei weist er auf die drei zentralen Bedeutungen oder auch Funktionen einer Kriegsgräberstätte hin. Denn neben der Eigenschaft als persönlicher Ort der Trauer, die inzwischen immer weiter an Bedeutung abnimmt, und der übergeordneten Funktion als Mahnmal des Friedens, müsse ein weiterer Aspekt hinzukommen: „Wenn wir es Ernst nehmen mit der Friedensarbeit des Volksbundes, müssen die Kriegsgräberstätten zu Lernorten für junge Menschen werden, damit so etwas nie wieder geschieht.“

Dabei berichtet Prof. Wernstedt  ganz konkret von dem Workcamp Wolfsburg-Costermano, das er noch kurz vor der zehntägigen Volksbund-Busreise besucht hatte. Auch dort seien sich Jugendliche nähergekommen, hätten sich Freundschaften und sogar mehr entwickelt. „Ich denke, wenn man sich einmal so nahestand, wird es später auch ein echtes Verständnis füreinander geben - und das ist genau das, was wir wollen. So werden diese Stätten der Erinnerung an die Vergangenheit auch zu Orten der Zukunft.“

Auch Deutsche waren Opfer

Über Vergangenes und Künftiges berichtet auch der Bürgermeister Antoni Polkowski der polnischen Gemeinde Elk, in deren Gebiet die deutsche Kriegsgräberstätte Bartossen liegt: „Ich muss eingestehen, dass es bei uns Polen vor zehn Jahren, als dieser Friedhof eingeweiht wurde, noch viele Ressentiments gegenüber den Deutschen gab. Nicht alles davon war berechtigt. Heute kann man aber sagen, dass wir durchaus anerkennen, dass auch die deutschen Soldaten zu großen Teilen Opfer dieses unmenschlichen Krieges waren. Aber bis zu dieser Erkenntnis war es ein langer Weg.“

Dieser Satz lässt alle aufhorchen, besonders die wenigen Gäste, die schon bei der Einweihung vor zehn Jahren dabei waren. Denn damals, so erinnern sie sich heute noch, blieb das Schicksal deutscher Soldaten und ihrer Familien in den polnischen Gedenkreden nur ein Nebenthema. Wichtiger war dagegen der teils bis ins Groteske übertriebene Lobgesang auf den Ehrentod der polnischen Soldaten. Man sollte kaum glauben, dass dies erst zehn Jahre her ist. Doch in dieser Dekade ist tatsächlich viel passiert. Dies wird auch offenbar, als die Vertreter der deutschen Minderheit die deutschen Gäste zu einem herzhaften Mittagsessen einladen. Auch für sie hat sich vieles verbessert. Heute sind sie längst anerkannter Teil der polnischen Gesellschaft.

Doch das alles reicht beileibe nicht aus, wenn nicht auch die Menschen jene Orte besuchen. Prof. Wernstedt hat es auf den Punkt gebracht: Wenn die Angehörigen einmal nicht mehr da sind, wird es umso wichtiger, dass der Volksbund – etwa durch die grenznahe Jugendbegegnungs- und Bildungsstätte am Golm auf Usedom und andere, verstärkt die jüngeren Generationen anspricht und sie für die wichtige Aufgabe der internationalen Friedensarbeit interessiert.

Im Moment erfüllen die Kriegsgräberstätten noch alle Funktionen die Rolf Wernstedt beschrieben hatte: Sie sind persönlicher Ort der Trauer, symbolische Mahnung für den internationalen Frieden und Lernorte der Jugendarbeit. Im Zusammenhang mit der Busreise und den Gedenkveranstaltungen in Königsberg sowie zuletzt in Bartossen steht aber weiterhin das persönliche Gedenken im Vordergrund.

Den Menschen helfen

Darauf wies auch die deutsche Generalkonsulin Annette Klein in ihrer bewegenden und von persönlichen Eindrücken getragenen Gedenkrede hin: „Erst während meiner Zeit in Afghanistan habe ich angefangen zu verstehen, wie wichtig es für die Hinterbliebenen ist, zu wissen, dass die Verstorbenen respekt- und würdevoll behandelt werden. Mit einem der dort gefallen deutschen Soldaten habe ich zusammengearbeitet. Die Hinterbliebenen, das sind eben nicht nur die Familien im engeren Sinn, das sind auch die Kameraden und die Freunde. Mein Dank gilt daher allen, die für die Errichtung, die Pflege und den Erhalt dieser würdevollen Gedenkstätte Sorge getragen haben und weiter tragen, allen voran dem Landkreis Elk und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und seinen vielen freiwilligen Helfern. Ihr Engagement hilft vielen Menschen, mit ihrem Verlust umzugehen.“

Diese Worte hinterlassen bei den Mitreisenden der Volksbund-Gruppe und den Teilnehmern der parallel stattfindenden Fahrt des Bezirksverbandes Oberpfalz um Kaspar Becher großen Eindruck – so wie die gesamte Reise: Es gab so viel zu sehen, so viel Interessantes zu hören, dass man sich im Nachhinein noch einmal ausgiebig sammeln müsste, um das alles irgendwie berichten zu können. Fast scheint es unmöglich. Man hätte dabeisein sollen.

Maurice Bonkat