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"Investiert dieses Geld lieber in die Zukunft!"

Ein Erlebnisbericht von Professor Truschka über Verlust, Trauer und einen treuen Wegbegleiter namens Hardy

Ja, ich kann mich noch erinnern, allerdings nur in wenigen fotoähnlichen Bildern: Mein Vater, der zweimal von der Front zum kurzen Heimaturlaub nach Hause kam, warf mich Dreijährigen in seiner Vaterfreude hoch in die Luft, um mich gleich wieder sicher über seinem Kopf aufzufangen und …Ich schaukelte bei einem Spaziergang zwischen den mich haltenden Händen meiner Eltern glücklich hin und her. Tja, das waren sie schon, meine bleibenden Erinnerungen an meinen Vater. Danach blieb mir nur noch die beständige und bange Frage an meine Mutter, wann doch Vati bald wieder heim kommen würde. Doch das wusste sie auch nicht, denn er war ja Soldat. Und so erzählte sie mir später gern, wie glücklich sie mit „unserem“ Vati war, wenn sie mit ihm in der Vorkriegszeit beim vielen Wandern in der böhmischen Heimat miteinander gesungen haben. Lieder, die man Volkslieder nennt, er die erste und sie die zweite Stimme dazu.

Obwohl mein Vater noch eine längere Zeit nach dem Kriegsende als „vermisst“ galt, eine Aussage, die noch Hoffnung in sich barg, so war er tatsächlich bereits fünf Monate vor Kriegsende gefallen. Gefallen im Westen, nachdem er den schlimmen Osten überlebt hatte und zwar zu einer Zeit, als erst eine außereuropäische Macht über den Krieg entscheiden wollte. Und diese Macht ließ es sich schließlich dann auch nicht nehmen, den gefallenen deutschen Soldaten ihre letzte Ruhestätte zu gewähren und ihnen dabei die gebührende Ehre zu erweisen.

Meine Mutter und ich, wir gehörten zu den „Glücklichen“, denn wir wussten recht zeitig, wo der geliebte Mann und Vater lag … und zwar auf dem Deutschen Soldatenfriedhof in Lommel/Kattenbos im belgischen Limburger Land. Die Evangelische Kirche in Deutschland (Kirchenkanzlei für die Gliedkirchen in der DDR – Abteilung Gräberfürsorge –) konnte uns diese Information bereits im Jahre 1955 geben. Auch ein Augenzeuge, ein ehemaliger Kamerad meines Vaters, besuchte uns Anfang der 1960er Jahre und beschrieb uns wie mein Vater gefallen war. Er kehrte als Freiwilliger von einem gefahrvollen Spähtruppeinsatz nicht mehr zurück.

Nun kannten wir zwar den Ort seines Grabes, aber durften es infolge der widrigen politischen Umstände lange, lange Zeit nicht aufsuchen. Auch dann noch nicht, als 1988/89 der „Eiserne Vorhang“ durchlässiger wurde, aber die örtliche Evangelische Kirche sich weigerte, für meine Mutter und mich wenigstens für zwei Nächte eine Übernachtung zu vermitteln, die Bahnfahrt hätten wir ja in DDR-Mark bezahlen können, und die Verpflegung hätten wir mitgenommen.

Somit musste erst der November 1989 kommen, der uns dann ein Jahr später die Möglichkeit eröffnete, ohne Fürsorge Berufener in Belgien einen Teil meiner Wurzeln zu suchen und zu finden. Der alte Polski-Fiat trug uns „in einem Ritt“ an den uns bisher unbekannten Ort der Trauer, einen Ort des langen Nachdenkens, aber auch des Glücks: Mein Vater hatte – wie die meisten Soldaten – lange noch nicht das Alter zum Sterben. Er hätte 1990 mit 86 Jahren noch leben können, aber so starb er bereits vierzigjährig. Traurig stimmte uns auch die Tatsache, dass wir zwar jetzt nach vielen Jahrzehnten das Grab aufsuchen können, aber keine „Besuchsroutine“ entwickeln konnten, denn die Entfernung von unserem Zuhause – unsere schöne Oberlausitz – bis nach Lommel beträgt weit über 800 Kilometer. Glücklich aber waren wir darüber, dass wir wenigstens ein identifiziertes Grab vorfinden, denn viele gefallene Soldaten konnten an ihrer Grabstelle lediglich mit der Kennung „ Ein deutscher Soldat“ eingebettet werden. Aber: Von der Anzahl der in Lommel bestatteten unbekannten Soldaten (ca. 13.000) konnten bisher über 7.000 identifiziert werden. Somit haben viele Überlebende dank der unermüdlichen Arbeit des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge nun auch einen Ort der Trauer erhalten. Aber wie viele Soldaten mögen noch ohne Kreuz in fremder Erde liegen?

Trotz dieser Entfernung gelang es uns seit 1990, das Grab sieben Mal aufzusuchen, letztmalig im Jahre 2002. Immerhin war meine Mutter da bereits 92jährig. Wir holten also nach, was nachzuholen ging und waren dabei stets sehr glücklich miteinander, dass uns diese gedankliche und seelische Tiefe eines Besuches in seiner Vorbereitung, in seinem Erleben und im Erinnern so verband.

Und nun war ich wieder dort und zwar am 11. September 2010. Es waren allerdings acht Jahre seit dem letzten Besuch mit meiner Mutter vergangen. Diesmal, da sie inzwischen der Pflege bedurfte und schließlich gestorben war, ohne sie, aber dennoch nicht allein, denn ich fühlte sie gedanklich neben mir. Dabei war aber auch wieder mein Husky namens „Hardy“, den meine Mutter stets liebevoll „unseren Jungen“ nannte und der seit 1996 nun bereits zum fünften Mal Reisebegleiter war. Eine sportliche Kämpfernatur in seinen Jugend- und „Mannes“jahren, aber auch ein bewundernswert diszipliniertes Wesen auf einer sehr langen Wegstrecke wie dieser.

Ich hatte von zu Hause einen kleinen selbstgestalteten Grabschmuck mitgenommen, und wir bewältigten die lange Strecke in insgesamt 9,5 Stunden. Dabei machten wir natürlich immer wieder eine kurze Pause. Bei strahlend-warmem Sonnenschein – die Tage zuvor regnete es noch in Strömen – besuchte ich, nachdem mein Husky schnell noch etwas Auslauf bekam, sogleich meinen Vater, schmückte sein Grab und nahm Zwiesprache mit ihm auf. In seinen Feldpostbriefen über vier Jahre konnte ich später dankbar lesen, wie stark sein liebendes Soldatenherz für seinen kleinen Jungen geschlagen hatte. In Gedanken drückte ich meine Mutter an mich, denn wir standen „wieder zu Zweit“ vor ihm und dankten ihm für das viel zu kurze Glück als Frau und als Sohn.



Niemals kam mir bisher der Gedanke, Schuldige an diesem damaligen furchtbaren Ringen der Staaten und Völker zu suchen. Ich danke dem Volksbund, der bereits seit 1919 besteht, dass er seiner soldatischen Ehrerbietung treu bleibt, auch wenn die Aufgaben zur Erhaltung und Neugestaltung von Soldatenfriedhöfen den finanziellen Rahmen der schrumpfenden Bundeszuschüsse weit übersteigen. Ich glaube gesehen zu haben, dass gegenüber den 1990er Jahren ein finanzielles und somit materielles Defizit besteht. Das erkennt man an dieser und an jener Stelle; für nichtgewinnbare Kriege allerdings stehen die Kassen offen! Es ist auch ein recht merkwürdiges Gefühl, wenn ich die mahnenden Worte in der Krypta lese. Es scheint mir, als würde sich der momentane Zeitgeist nur noch nicht an das Tabu des toten Soldaten heranwagen.

Nun aber etwas zur Entstehung díeses Soldatenfriedhofes: Sogleich nach dem Krieg (ab 1947) wurden die Um- und Einbettungen vorgenommen, so dass ca. 39.000 deutsche Soldaten, hauptsächlich aus dem Zweiten Weltkrieg, hier begraben sind, wovon jeweils zwei Soldaten – Kopf an Kopf gebettet – ein Kreuz haben. Das Gräberfeld hat ein Flächenmaß von 16 Hektar, was einem Umlaufmaß von 1,6 Kilometern entspricht. Infolge der Einbettungsmaßnahmen konnte es nicht vermieden werden, die natürliche Humusschicht zu zerstören. Somit verwandelte sich dieses flache und sehr windige Gelände schnell in eine wüstenähnliche Landschaft mit Flugsand, Ried und  Hartgras. Aus diesem Grund wurde dann rings um den Friedhof herum ein schützender Wall errichtet. Nach dieser äußeren Schutzmaßnahme wurde wieder Humus und auch Torf auf das Gräberfeld eingebracht, um dem Boden die nötige Nährkraft zu geben. Darauf kam noch Waldboden zur Verteilung, wonach Rasen eingesät und Heidekraut gepflanzt wurden. Alles konnte somit gut gedeihen. Darüber hinaus wurden vereinzelt Bäume wie Birken, Eichen, Ahorn, Fichten und Wacholder gesetzt, um dem natürlichen Landschaftsbild zu entsprechen und um auch später schattige Stellen zu haben. Der nordwestlich angelegt Eingangs-/Empfangsbau lässt den Besucher sogleich in einen Ehrenhof eintreten, dessen Südseite mit einer Krypta abschließt, die mit einer 6 Meter hohen und 39 Tonnen schweren basaltenen Kreuzigungsgruppe gekrönt wird. Oben zu ihren Füßen befindet sich für den Besucher eine Aussichtsbalustrade. Im Inneren der Krypta liegt in Stein der gefallene deutsche Soldat, zu jeder Zeit mit Kränzen und Schleifen sowie Blumen geehrt.

Mein bewusst auf den Spätsommer gerichteten Besuch des Friedhofs vermittelt nun leider nicht mehr das herrlich blühende Heideland und somit die natürliche und lebendig-hoffungsvolle Schönheit dieses Gräberfeldes, wie es in den 1990er Jahren noch zu bewundern war. Die Erika regeneriert sich wohl selbst kaum noch und für eine äußere Erneuerung sind offenbar keine Mittel mehr vorhanden. Gern hätte ich – wie in den 1990er Jahren (zu Zeiten von Herrn RAUSER) – mit der Friedhofsverwaltung darüber gesprochen.

Ganz vereinzelt erkennt man noch mit Blumen, Gebinden, Fotografien, Amuletten usw. geschmückte Kreuze. Es mögen wohl gerademal ein Prozent aller Gräber sein. Noch vereinzelter sieht man Besucher in der Krypta, oben an der Kreuzigungsgruppe oder unten auf dem weiten Gräberfeld. Es umgibt einen eine merkwürdige Stille, die neben einem glücklichen Alleinsein auch Geborgensein vermittelt. Und wenn man dann – so wie ich – schließlich wieder gehen muss, verlässt man diesen Ort des Friedens im seelischen Gleichgewicht.

Nachdem ich nun wieder am Auto ankam, umlief ich mit „Hardy“ das gesamte Friedhofsareal, allerdings außerhalb des schützenden Walles. Diese Strecke war gerade genug für den inzwischen 14 ½-Jährigen, der in seinen Leistungsjahren weit über 20.000 Kilometer bewältigt hat. Ein Blick hinein auf das weite Gräberfeld verriet mir die Lage der Ruhestätte meines Vaters, da der Blumenschmuck weithin in der Sonne leuchtete.

Nun ging ich nochmals schnell zum Grab und verabschiedete mich von meinem Vater mit den bangen Fragen, ob wir uns denn jemals wiedersehen werden und wer wohl nach mir ihn besuchen komme? Die Zukunft wird es zeigen, aber sie ist sehr ungewiss.

Dieses Erlebnis wird mich wieder lange in meinen Gedanken beschäftigen, aber wird mir auch Kraft für die Zukunft geben. Ja, es ist schon sehr wichtig, dass man die eigene Herkunft nicht nur kennt, sondern diese auch gegenwärtig pflegt. Oder sollten wir demgegenüber etwa sagen: Lasst doch die gefallenen Soldaten endlich in Ruhe, lasst sie in den Weiten Europas oder der Welt liegen! Investiert dieses Geld lieber in die Zukunft! Ein Besuch an einem solchen Ort beantwortet diese sehr fragwürdige Ansicht eindrucksvoll auf seine Weise. Der Spätsommer 2009 – ich war leider nicht zur Gedenkfeier anlässlich des 50jährigen Bestehens dieser Kriegsgräberstätte -  hat dazu eindeutig Stellung bezogen.

Noch am selben Tag, an diesem sonnigen Sonnabend, machten wir uns wieder auf den Rückweg in die sehr ferne Oberlausitz. Bis in den Abend hinein konnten wir ja noch fahren und hatten dafür am Sonntag nur noch eine verkürzte Strecke zu bewältigen. Aber wo wollten wir übernachten? Doch auf keinen Fall in einem Viersternehotel! Ich wollte mit „Hardy“ allein sein! Und so wählten wir kurzerhand eine Abfahrt weit hinter Dortmund und hielten schließlich hoch oben auf einem Hügel an. Dort fanden wir sogleich einen ruhigen Platz. Auch  meine Mutter hatte damals niemals Probleme mit der freien Übernachtung im Auto, mehrfach hatten wir dies auf unseren Fahrten nach Lommel so praktiziert. Campinggemäß hatte ich ja vorsorglich alles Notwendige für diese Art Übernachtung eingepackt: Genügend Wasser, Esserei für mich und Fresserei für den Husky, Schlafsack, Waschzeug usw.. Diese örtliche Stille für die Nacht wurde – natürlich war es Zufall – noch mit einem Kruzifix am Wegesrand betont. Vor drei Stunden stand ich doch noch vor dem Grab meines Vaters und schaute auf die monumentale Kreuzigungsgruppe auf der Krypta! Ich fühlte mich sofort irgendwie geborgen, und so drängte sich in mir der Gedanke auf, dass zumindest in einem Punkt zwischen Christus und den gefallenen Soldaten kein Unterschied bestehen würde, nämlich: Beide scheiterten lediglich in ihrem Sein, unsere Herzen und Seelen gehören beiden! Und so schliefen wir nach einem anstrengenden Tag bei soeben untergegangener Sonne irgendwo im Werler Land von einem Kruzifix beschützt ein. Nur kurz hörte ich noch das angenehme Atmen meines Begleiters an meinem Kopfe.

Ein wiederum hochsommerlicher Tag brachte uns dann nach 1.700 Kilometern bei einer Reisegesamtzeit von 33 Stunden glücklich nach Hause. Es war eigenartig: Am Montag waren die Himmelsschleusen wieder geöffnet!

Prof. Dr. Volker Truschka