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Kaddisch für deutsche Soldaten

50 Jahre Kriegsgräberstätten in der Normandie

"Wer kann aus heutiger Sicht jeden einzelnen Verstorbenen be- und verurteilen, ob er in diesem Krieg auf der richtigen Seite war? Die alliierten Sieger werden heute wie in jedem Jahr seit der Landung in der Normandie im Jahre 1944 gefeiert, ihr Sieg in zahllosen Festveranstaltungen zelebriert. Auf der anderen Seite stehen dann alle Deutschen auf der geschichtlich falschen Seite, wo doch jeder seine eigene Seite vehement für die richtige hielt? Dürfen wir Nachgeborene uns dieses Urteil überhaupt erlauben? Sind nicht im Tode alle gleich?" Mit aristotelischen Fragen wie diesen, die auch 67 Jahre nach den todbringenden Ereignissen in der Normandie für einige noch provokant wirken, lässt der jüdische Geistliche Michael Shevack die etwa 1000 Gäste und Teilnehmer der Gedenkfeier auf der deutschen Kriegsgräberstätte Orglandes aufhorchen. Es ist ein bemerkenswerter Rückblick, der zugleich ein wichtiger Schritt in eine friedvollere Zukunft sein könnte.

 

Geschichte ist Gegenwart

 

In der Normandie aber ist die Geschichte tatsächlich Gegenwart. Wer Anfang Juni Strände, Kathedralen, Abteien und Marktplätze dieses vor 67 Jahren so umkämpften Landstriches besucht, kann dies bestätigen. Es ist D-Day. Wie in jedem Jahr begehen Touristen und Einheimische diesen Jahrestag gemeinsam mit einem fast schon rauschhaften Drang zum Historischen: Überall wird geflaggt, die Menschen tragen stilisierte Befreier-Kussmünder auf den Wangen, dazu sieht man viele junge Gesichter in alten Uniformen. Auf den Straßen hat die Geschichte in Form von zahllosen amerikanischen Militärjeeps ebenfalls Vorfahrt. Auch auf den deutschen Kriegsgräberstätten wird ein historisches Datum begangen. Es ist der 50. Jahrestag der Friedhofseinweihungen in Marigny, La Cambe, St. Désir de Liseux und Orglandes.

 

Die zentrale Veranstaltung des Volksbundes führt die Gäste in einen 400-Einwohner-Marktflecken, an dessen Ortsausgang heute über 10 000 deutsche Soldaten ihre letzte Ruhestätte haben: Orglandes. 8 561 von ihnen sind namentlich bekannt, 3 480 waren 21 Jahre und jünger, der jüngste erst 15 Jahre alt. Weitere 1 500 Tote haben noch nicht einmal einen Namen auf ihren Grabsteinen. Sie ruhen als Unbekannte unter ihren Kameraden. Diesen Toten widmet der Volksbund dank der Spenden seiner Förderer mit einem Meer weißer Blumensträuße ebenfalls ein besonderes Zeichen der Andacht.

 

Blick auf die Gräber

 

Blumenkränze legt Volksbundpräsident Reinhard Führer auch auf vielen Kriegsgräberstätten anderer Nationen nieder. Generalsekretär Rainer Ruff nimmt parallel an den Veranstaltungen auf der amerikanischen Kriegsgräberstätte in St. James und auf dem deutschen Friedhof in Mont d’Huisnes teil. „Französische, amerikanische, britische, kanadische, polnische sowie alle anderen getöteten Soldaten und Zivilisten der vom D-Day direkt betroffenen Nationen haben den Nachgeborenen eine wichtige Botschaft hinterlassen: die Mahnung zum Frieden,“ sagt Reinhard Führer.

 

 

 

Mit Blick auf die langen Gräberreihen in Orglandes wird  dieser Appell für die Soldaten des Jagdbombergeschwaders 32 aus Lagerlechfeld und den Kameraden der Division Spezielle Operationen umso eindringlicher. Sie helfen bei der Organisation der großen Volksbund-Gedenkveranstaltung und pflegen die Kriegsgräberstätte Orglandes in einem freiwilligen Arbeitseinsatz. Später treten sie gemeinsam mit über 150 amerikanischen, niederländischen und britischen Fallschirmjägern bei dieser und vielen anderen internationalen Gedenkstunden in der Normandie an.

 

Namen und Schicksale

 

Einige der deutschen Soldatinnen und Soldaten haben darin bereits Erfahrung, so wie Stabsgefreiter Benjamin Unglaub, der trotz seiner 22 Lenze bereits zum vierten Mal an einem solchen Kriegsgräberpflegeeinsatz teilnimmt. Hauptfeldwebel Julia Schraven ist dagegen erstmals dabei und von den Eindrucken geradezu überwältigt: „Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt, und finde es sehr schön, dass dies für die Angehörigen getan wird. Das ist eine gute Sache, an der ich mich mit ganzem Herzen beteilige,“ sagt die 32-Jährige, während sie mit einem dicken Stift die weißen Inschriften auf den Grabsteinen nachzeichnet. Daneben steckt Stabsfeldwebel Günther Reissner bereits die ersten der insgesamt 1 500 Blumensträuße in die dafür vorbereiteten Blumenvasen. Die Arbeit ist etwas eintönig: Gräber der Unbekannten suchen, Vasen in die Erde drücken, dann ausreichend Wasser dazu und schließlich die Blumensträuße sauber platzieren. Das lässt Zeit zum Nachdenken. Der Standortälteste denkt dabei auch an seinen Großvater, der schon im Ersten Weltkrieg in Verdun kämpfte. „Die Erfahrung, die ich hier mache, wird mir später auch bei der Sammlung für den Volksbund helfen. Denn nun kann ich den Menschen ganz anschaulich erklären, wofür ihre großen und kleinen Spenden eingesetzt werden,“ sagt er, ohne den Blick von den Namen und Zahlen abzuwenden, die allzu oft eine nur kurze Lebensspanne markieren.

 

So sehen es auch die Mitglieder der Reservistenkameradschaften Duisburg-Nord und Dormagen, die ebenfalls die Gräber von Orglandes besuchen und beim Auf- und Abbau des sich an die deutsche Gedenkstunde anschließenden Empfangs helfen. Insgesamt sind es knapp 50 Mann, dazu ein Kamerateam von RTL. Das Fernsehen begleitet die Reservisten während ihrer Reise durch die Normandie. Sie filmen auch die weiteren Ehrengäste, die etwa 100 Angehörigen der hier beerdigten Soldaten, den deutschen Botschafter Reinhard Schäfers, den französischen Sous-Präfekten Yves Husson, die 1. Vizepräsidentin des Sächsischen Landtages, Andrea Dombois, die Bundestagsabgeordnete Kirsten Lühmann,  sowie den sächsischen Landesvorsitzenden Prof. Dieter Landgraf-Dietz und Rolf Schüth vom Vorstand des Volksbundes. An ihrer Seite finden sich auch die französischen Bürgermeister der umliegenden Gemeinden sowie viele hochrangige Vertreter der amerikanischen, britischen, kanadischen und französischen Streitkräfte und Botschaften.

 

Dazu kommen die Jugendlichen des Volksbund-Landesverbandes Bremen um Isa Nolle, die am Eingang der Kriegsgräberstätte Blumen an die Angehörigen verteilen und sich auch beim durch die erfahrenen Feldköche der deutschen Fallschirmjäger bewirteten Empfang hervorragend um das Wohl der internationalen Gäste kümmern. Daneben sieht man auch Jugendliche der französischen Organisation Laissez les Servir, die Kinder aus den sozial schwachen Pariser Vororten betreut.

 

Übrigens sind die Bremer Jugendlichen auch in der historisch-pädagogischen Aufarbeitung von Einzelschicksalen sehr aktiv. So haben sie über den Kontakt zu der Angehörigen Ursula Trefzger, das Schicksal ihres Bruders Gerhard Trefzger anhand von zahlreichen Fotos und Briefen nachvollziehbar aufgearbeitet. „Für unsere Jugendarbeit ist dies sehr wichtig, da so das allgemeine Grauen des Krieges ein konkretes, ein menschliches Gesicht bekommt,“ sagt Jugendreferentin Isa Nolle. Kurz darauf verteilt sie gemeinsam mit deutschen und französischen Jugendlichen weitere Blumensträuße an die internationalen Gäste der Gedenkfeier.

 

Dass die Gedenkfeier in dieser so würdevollen und freundschaftlichen Atmosphäre abläuft, ist dabei ganz wesentlich der Deutschen Botschaft zu verdanken. Hier gilt der Dank der Angehörigen neben vielen anderen dem Oberstleutnant Jens Ludwig und seinen Soldaten vom Stab des ebenfalls teilnehmenden Militärattachées Brigadegeneral Werner Weisenburger in Paris. Ludwig hat in Frankreich schon sehr viel für den Volksbund getan. Doch für Ludwig ist es vorerst der letzte Einsatz für die deutschen Gräber in Frankreich, denn er wird demnächst versetzt. Vom Präsidenten des Volksbundes wird er daher zum Abschied mit der Goldenen Ehrennadel geehrt.

 

Souvenir, Souvenir

 

Für den würdevollen musikalischen Rahmen sorgen dabei neben der französischen Kapelle der Gemeinde und dem Männergesangsverein Oberschmitte, der bereits zum dritten Mal auf eigene Kosten für den Volksbund aktiv ist, das hervorragende Luftwaffenmusikkorps 4 aus Berlin unter der Leitung von Oberstleutnant Dr. Christian Blüggel. In diesen Tagen erleben Blüggel und seine Musiker einen wahren Marathon von Gastpielen, Platzkonzerten und Vorbeimärschen unter dem Beifall von Einheimischen sowie der zahlreichen Touristen. Das schafft Sympathie, sogar Nähe – auch wenn sich die Angehörigen der Bundeswehr und Reservisten nach Arbeitsende auf den Marktplätzen der Region umschauen. Hier werden sie zwischen Würstchenbude, Bierstand und Show-Bühne vor allem von Kindern neugierig umringt. „Souvenir, Souvenir,“ rufen sie und bitten deutschen, amerikanischen und allen anderen Soldaten so kleine Geschenke und Anstecker ab. Die fleißigen Volksbund-Helfer verteilen dabei kleine Nadeln mit stilisierten deutschen und französischen Flaggen, welche der jüngst verstorbene Volksbund-Förderer Herbert Richter aus Pforzheim gespendet hatte. Sein Vater fiel als Soldat in Frankreich.

 

Einen sehr persönlichen Bezug zu dieser Kriegsgräberstätte offenbart auch Sachsens Volksbund-Landesvorsitzender Prof. Dieter Landgraf-Dietz in seiner Gedenkrede. Denn sein Vater Richard Landgraf-Dietz ist einer der über 10 000 Soldaten, die hier vom amerikanischen und vom französischen Gräberdienst sowie vom Volksbund beerdigt wurden. „Ich habe meinen Vater nie gekannt und erleben können. Dieses Schicksal meiner Familie ist auch das vieler anderer, auch der französischen, der amerikanischen, englischen und so vieler Familien anderer Nationen,“ sagt sein Sohn heute.

 

Leid auf Leid

 

 

Diesen Gedanken teilen viele der anwesenden Angehörigen, die heute häufig noch schwer an den Folgen der damaligen Ereignisse zu tragen haben. Ihnen spricht Botschafter Reinhard Schäfers Mut zu: „Auf den Friedhöfen trifft nicht Schuld auf Schuld, sondern Leid auf Leid.“ Jenen Aspekt der Schuldfrage greift zum Ende der Gedenkveranstaltung auch der eingangs erwähnte jüdische Geistliche Michael Shevak aus den USA auf, der neben dem evangelischen Militärpfarrer Peter Bornkessel aus Deutschland, dem orthodoxen Vater Paul Golunski und seinem katholischen Pendant Manuel Cerveau aus Frankreich die Totenandacht hält – und das in hebräisch-aramäischer Sprache.

 

Frieden unter uns

 

Es ist das Kaddisch, eines der zentralen Gebete des Judentums. Es wird unter anderem am Grabe gesprochen und ist im Wesentlichen eine Lobpreisung Gottes. Eine der Zeilen lautet: „Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, er stifte Frieden unter uns ...“ Und nicht nur diesem Sinne stiftete Rabbiner Michael Shevack einen ebenso friedlichen Gedanken der Versöhnung – speziell gegenüber den deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Denn im Zuge seines Totengebets legt er einen Stein auf den Grabstein eines unbekannten Soldaten. „Meines Wissens ist diese absolut bemerkenswerte Geste einmalig, und so noch von keinem Rabbiner auf einer deutschen Kriegsgräberstätte praktiziert worden,“ unterstreicht Volksbundpräsident Reinhard Führer die herausragende Bedeutung der Friedens- und Versöhnungsbotschaft Shevacks.

 

Entwaffnende Waffe

 

Der Rabbiner kommt in Begleitung von Helen Patton, der Enkeltochter des berühmten US-Generals George S. Patton, auf die deutsche Kriegsgräberstätte in Orglandes. Ihre Patton-Stiftung schuf beispielsweise ein Denkmal in einer ehemaligen Apfelplantage, die ihr Großvater damals als Standort für ein Camp genutzt hatte. Sie sagt: „Heute lebe ich in Deutschland. Meine Kinder sind halb Amerikaner, halb Deutsche. Sie erinnern mich täglich daran, dass neues Leben aus ehemaligen Konflikten entstehen kann, so wie aus der Wurzel des letzten Apfelbaumes der früheren Apfelplantage durch einen Künstler aus Elsass-Lothringen ein Kunstwerk entstand. Die Wurzeln meines Lebens und meiner Arbeit wurzeln im Mut unserer Veteranen.
Die lebenslange Freundschaft meiner Eltern mit den Kindern von General Rommel bewies mir, dass Versöhnung damit beginnt, dass man versucht, seinen Gegner zu verstehen. Verständnis ist eine entwaffnende Waffe.“

 

 

Dann bittet die Dame mit dem fröhlichen Lächeln und der modischen Kurzhaarfrisur ebenfalls um ein paar weiße Blumensträuße, damit auch die Unbekannten auf der amerikanischen Kriegsgräberstätte an der Aktion des Volksbundes beteiligt werden. Die Bitte wird ihr mit Dank gewährt. 

 

Maurice Bonkat

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