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Vom Begreifen des Unfassbaren

Projekt Namensziegel in Munster

Ton ist einer der ältesten Baustoffe und zugleich von überraschender Beständigkeit. Man könnte auch sagen, dass er die ihm einmal gegebene Form dauerhaft bewahrt und erinnert. Diese Eigenschaften macht sich das Projekt Namensziegel des Volksbund-Bezirksverbandes Lüneburg/Stade zu nutze. Denn aus Ton sind auch die kleinen Tafeln, welche die Namen von inzwischen weit über 1 000 sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Zweiten Weltkrieg tragen. Es ist ein Erinnerungsprojekt, das sich vornehmlich an junge Menschen wendet. In der Realschule Munster in der Nähe des ehemaligen Konzentrationslagers Bergen-Belsen geschieht dies Ende April 2012 gemeinsam mit russischen Jugendlichen aus der Region Tambow.

Ein großer Schock

Neben der theoretisch-geschichtlichen Beschäftigung mit dem bedeutsamen Thema spielt dabei auch die handwerkliche Tätigkeit wie im Werkunterricht von Rainer Hartwich eine wichtige Rolle. Der ist bei den Munsteraner Schülern sehr beliebt. Das merkt man gleich. Sogar mit seinen tonverschmierten Händen darf er einer etwas vorlauten Schülerin scherzhaft an die Nase fassen. Die Realschülerin zieht nur kurz die Augenbrauen hoch, dann lächelt sie verschmitzt und wendet sich wieder ihrem Tonklumpen zu.

Mit Hilfe eines Rundholzes formt sie daraus einen flachen, gleichmäßigen Fladen. Der wird dann mit einem Messer in eine rechteckige Form geschnitten. Anschließend legt sie ein Schablonenpapier darüber und beginnt, mit einer Nadel die darauf vermerkten Namen und Lebensdaten auf das Werkstück zu übertragen: „Schidko Andrej 15.09.1905 – 19.11.1941“, steht nun auf der Tonscheibe, die Lehrer Hartwich später erst bei 960 Grad und später nochmals bei über 1100 Grad brennen wird. Es ist der Name eines der über 100 Opfer, die allein an diesem einen Novembertag im Lager Bergen-Belsen verstarben und heute auf der Kriegsgräberstätte Hörsten bisher namenlos bestattet sind. Das berührt die Schüler. „Es ist für mich schon ein großer Schock, wenn ich mir überlege, wie viele Menschen damals im Lager gestorben sind. Und viele waren auch noch sehr jung“, sagt der 16-jährige Manuel Hoefs, während er mit seiner Nadel sorgfältig die Buchstaben Punkt für Punkt in dem erdfarbenen Aufbauton verewigt.

Mit Hand und Kopf

Es ist ein sehr konkreter Einstieg ins Thema, der die Jugendlichen wortwörtlich begreifen lässt – mit Hand und Kopf. „Unser Konzept ist fächerübergreifend und betrifft den Unterricht sämtlicher 9. Klassen in den Fächern Geschichte, Politik, Deutsch sowie Werte und Normen“, erklärt Konrektor Frank Zimmermann. Schulleiter Jürgen Timme betont ebenfalls, wie wichtig dieses Thema speziell für die Jugendlichen dieser Region ist. Er selbst habe als Kind auf dem Gelände des ehemaligen Kriegsgefangenenlagers Wietzendorf ganz in der Nähe von Bergen-Belsen gespielt. Er erinnert sich daran, wie selbstverständlich seine Elterngeneration das Todeslager in der Nachbarschaft akzeptiert habe. Da dürfe man nichts beschönigen und müsse zugleich dafür Sorge tragen, dass die sich aus dieser Zeit ergebende Mahnung im Gedächtnis bleibe.

Das Projekt Namensziegel funktioniert nicht nur in dieser Hinsicht, sondern trägt auch tatsächlich zur gelebten Völkerverständigung bei. Den Anfang markierte eine Weiterbildung des heutigen Konrektors Frank Zimmermann beim Lüneburger Volksbund-Bezirksverband im Jahr 2010. Dazu kam die naheliegende Idee, die russische Partnerschule einzubeziehen. Es war ein voller Erfolg. Während in Mitschurinsk im Sommer 2010 ein Hochkreuz zum Gedenken an die deutschen Kriegsgefangenen aufgestellt wurde, brachten die deutschen Jugendlichen erstmals die von ihnen gefertigten Namensziegel an dem kleinen Einfriedungswall der Kriegsgräberstätte Hörsten an.

Nur ein kleiner Funken

Dort liegen schätzungsweise 20 000 ehemalige Sowjetsoldaten. Dass deren persönliche Namen und Daten überhaupt bekannt sind, beruht auf der Akribie der damaligen Lagerverwaltung. Tatsächlich starben allein in Bergen-Belsen im Winter 1941/42 tagtäglich Dutzende, teilweise Hunderte Menschen. Die Liste der Todesursachen ist lang und umfasst neben dem allgegenwärtigen Hunger vor allem Seuchen wie Typhus, Ruhr, Fleckfieber und Tuberkulose. Darüber spricht Geschichtslehrer Eike Drögemüller mit seinen Schülern vorbereitend im Unterricht. Heute geschieht das Ganze anlässlich des Besuches einer Schüler-Lehrer-Delegation aus Mitschurinsk im Hörsaal der Schule. Mit dabei ist auch Volksbund-Schulreferent Dr. John Cramer, der sich lebhaft an die Anfänge des Projektes erinnert: „Aus einem kleinen Funken wurde plötzlich ein Riesenfeuer! Inzwischen beteiligen sich Schulen aus ganz Niedersachsen an diesem Projekt. Und weitere Namensziegel-Projekte werden gerade auf anderen Friedhöfen für sowjetische Kriegsgefangene gestartet, zum Beispiel in Sandbostel oder Heemsen.“

Die Zusammenarbeit mit der Realschule Munster wird aber eine besondere Bedeutung behalten. Die Einbeziehung der russischen Partner erweitert der Idee um eine zusätzliche Dimension. Glücklicherweise kann der in Sibirien geborene Lehrer Alexander Busch alles Gesagte problemlos und fließend übersetzen. So berichtet Elena Rybaltschenko auch den deutschen Schülern eindrucksvoll von den sich daraus ergebenen Schicksalsklärungen. Ein echtes Gänsehautgefühl wird spürbar, als die Direktorin der Mitschurinsker Schule Nr.7 von ihrem Telefonat mit einem Angehörigen erzählt. Der reagierte auf die Nachricht, dass man nun den Namen und die zugehörige Grabstätte seines als vermisst geltenden Vaters zuordnen könne, zunächst mit absoluter Stille. Dann sei dessen Frau an den Hörer gegangen und hätte berichtet, dass ihr Ehemann in diesem Moment weinend auf dem Sofa sitze und nicht antworten könne. Später folgt sein herzlicher Dank und die Frage, ob er vielleicht etwas bezahlen solle. Nein, das nicht, denn das Engagement ist allenthalben ehrenamtlich. Und auch jetzt braucht der Angehörige eine kleine Atempause.

Gänsehautgefühl im Hörsaal

Volksbund-Schulreferent Cramer weiß ebenfalls aus eigener Erfahrung von ähnlichen Begebenheiten zu berichten. Gerade in jüngster Zeit kommen Angehörige – häufig mit der gesamten Familie – aus Russland nach Deutschland und besuchen nach vielen Jahrzehnten erstmals die bisher unbekannten Gräber. „Dann bringen sie Bonbons oder kleine Steine mit, die sie auf die Gräber legen. Umgekehrt nehmen sie etwas Erde mit Nachhause, die sie dann am Familiengrab verstreuen“, sagt John Cramer.

Als er später am Tage die sowjetische Kriegsgräberstätte Hörsten besucht, wo die bisher produzierten Tontafeln der Jugendlichen installiert sind, setzen russische Angehörige zufällig gerade einen persönlichen Gedenkstein in die Erde. „Dabei wäre dieser Friedhof nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe in Vergessenheit geraten. Sogar Panzer des angrenzenden Truppenübungsplatzes sind hier unwissentlich über die Gräber gerollt. Heute hat sich vieles aber längst noch nicht alles zum Besseren geändert“, sagt der Schulreferent, während im Hintergrund die donnernden Übungsschüsse der modernen Panzer unüberhörbar durch die Heideluft hallen.

Morgen wird er die Besuchergruppe aus Mitschurinsk an die Gräber und zu den Namenstafeln führen. Auf den Metallgestellen entlang des Walls findet sich auch ein Hinweis auf den Beginn des Munsteraner Projekts von vor zwei Jahren. Zeitgleich wird Lehrer Hartwich in den Werkräumen der Realschule Munster womöglich die nächsten Namensziegel aus dem Brennofen ziehen, ganz vorsichtig. Diese Tafeln sind wichtig. Sie sollen die Zeit überdauern und den Toten endlich ihre Namen zurückgeben.

Maurice Bonkat