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Was bleibt?

10 Jahre Kriegsgräberstätte Groß-Nädlitz (Nadolice Wielkie)

Manchmal ist es erschreckend. Hört man heute die Berichte der Angehörigen von Kriegstoten und Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges, ist das unendliche Leid auf allen Seiten kaum zu fassen. Immer wieder stellt sich die Frage: Wieso? Auch die Tatsache, dass – und auf welche Weise bis heute nach den Toten aus dieser dunklen Epoche gesucht wird, ist manchen nicht klar. Zumindest darauf geben die Volksbund-Mitarbeiter schon im Vorfeld der Gedenkveranstaltung anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Kriegsgräberstätte Groß-Nädlitz (Nadolice Wielkie/Polen) erhellende Antworten.

Umbetter informieren

Was als erstes auffällt, ist der scharfe Kontrast zwischen der gepflegten Kriegsgräberstätte und ihrer Vorgeschichte. Davon hört man schon am Vorabend der Veranstaltung im Konferenzsaal eines nahe gelegenen Breslauer Hotels. Hier informieren die Volksbund-Umbetter Wolfgang Dietrich und Eric Goese die Angehörigen der Kriegstoten sehr konkret über ihre Arbeit. Übrigens kommen allein mit einer vierzigköpfigen Reisegruppe, die von Kassel aus zur Gedenkstunde fährt, neun Söhne, vier Töchter, ein Bruder und zwei Schwestern von Gefallenen nach Groß-Nädlitz. Sie sind besonders an der Arbeit der Umbetter interessiert. Und die ist im Gegensatz zum heutigen Idyll der Friedhofsanlage nicht immer ansehnlich. In ihrem Diavortrag sieht man stattdessen völlig verwilderte Grablagen an allen möglichen und unmöglichen Orten, allerlei verrostetes Kriegsmaterial und vor allem zahllose menschliche Gebeine. Diese liegen – wenn nicht wie zur Anfangszeit der Volksbundarbeit in Osteuropa offen verstreut oder in geplünderten Gräbern – häufig an Stellen, wo man sie nicht vermutet und die zudem einer Grabanlage nicht würdig sind.

„Ohne die Hilfe von ortsansässigen Zeitzeugen, die uns die alten Grablagen zeigen, würden wir wohl ohnehin kaum noch Gräber finden“, gibt Gruppenleiter Wolfgang Dietrich offen zu. Das Exhumieren inzwischen überwucherter Wehrmachtsgrablagen sei dabei noch das Leichteste. Schwierig werde es, wenn über den Gräber im Laufe der vergangenen Jahrzehnte Straßen oder Bauwerke errichtet worden sind. Aber auch hier versuchen sie im Auftrag des Volksbundes und der Angehörigen noch das Unmögliche zu erreichen.

Alles hilft

Haben sie Erfolg, ist der Ablauf immer der gleiche: Bei Genehmigung der Ausbettung, welche die polnische Partnerorganisation Pamiec (deutsch: Gedenken) erwirkt, wird nach Hinweisen des Volksbund-Gräbernachweises, der Deutschen Dienststelle in Berlin (ehemals: WASt) sowie der Zeitzeugen die vermutliche Stelle möglichst genau lokalisiert. Danach beginnen die Probegrabungen und schließlich die eigentliche Ausbettung. Dabei werden alle Gebeine sowie weitere Fundsachen sorgfältig geborgen und protokolliert. „Jeder Ring, jede Brille, jeder nach einem früheren Bruch wieder verheilte Knochen, jeder in das Kochgeschirr eingeritzte Name ist ein Hinweis, der vielleicht am Ende zur Identifizierung der Toten beiträgt. Alles kann uns helfen.“, erklärt Wolfgang Dietrich.

Beim Vortrag für die Angehörigen, an dem auch der Volksbund-Vizepräsident Prof. Volker Hannemann teilnimmt, ist es sehr still. Keiner ruckelt mit dem Stuhl, niemand bestellt Getränke oder blättert in irgendwelchen Prospekten. Auch als der Umbetter zum Thema der Erkennungsmarken kommt, ist ihm die allseitige Aufmerksamkeit gewiss. Denn die aus unterschiedlichen Materialien gefertigten und mit unterschiedlichen Kennzeichnungen beschrifteten Metallscheiben sind für die Identifizierung der Toten der wichtigste Anhaltspunkt. Doch leider sind sie manchmal nach Jahrzehnten im feuchten oder sauren Milieu des Bodens nicht mehr zu lesen. Außerdem fehlen sie häufig infolge von Grabplünderung. Daher richtet Dietrich einen dringenden Appell an die Angehörigen und alle Leser der Stimme&Weg: Kaufen Sie keine Erkennungsmarken. Wenn Sie durch Grabräuber von den Toten entfernt werden, sind diese nicht mehr zu identifizieren. Ihr Schicksal wird dann für immer ungeklärt bleiben!“

Erst nach dem beeindruckenden Vortrag, der aufgrund seiner expliziten Darstellung und teils schockierenden Bildern nicht für jedermann geeignet sein dürfte, stellen die Angehörigen ihre Fragen. Viele kann Robert Zaka vom Volksbund-Gräbernachweis beantworten. Manches wird wohl niemals endgültig geklärt werden. Dennoch hat Robert Zaka zahlreiche Unterlagen zu Ursprungsgrablagen, Umbettungen und heutiger Lage der Gräber auf der Kriegsgräberstätte in Groß-Nädlitz dabei. Manchmal erhält aber auch er von den Angehörigen neue Informationen. So kann er nach dem Gespräch mit den beiden Brüdern Dieter und Rudi Jedan den richtigen Geburtsort ihres Vaters Hermann in den Unterlagen ergänzen. Zugleich erfährt Prof. Dr. Dieter Jedan, der extra aus seiner neuen Heimat in Cape Girardeau (USA) angereist ist, erst hier das Todesdatum seines Vaters.

Zwei Brüder, zwei Schwestern

Am Folgetag trifft man die beiden Brüder auf der Kriegsgräberstätte wieder, über die der Volksbund-Landesverband Sachsen die Patenschaft übernommen hat. Noch kurz bevor dessen Vorsitzender, Prof. Dieter Landgraf-Dietz, Generalkonsul Dr. Gottfried Zeitz, Volksbund-Vizepräsident Prof. Volker Hannemann, Vizewoiwodin Ewa Mankowska, Gemeinde-Bürgermeister Stefan Debski und die sächsische Landtagsvizepräsidentin Andrea Dombois zu den Besuchern sprechen, stehen die Brüder vor der Stele mit dem Namen ihres Vaters. Dabei kommen die Erinnerungen hoch. Von dem Vater, den ihnen der Krieg viel zu früh genommen hat, wissen sie kaum etwas. Doch an die Vertreibung aus ihrer ursprünglichen Heimat und die leidvolle Zeit danach können sie sich schmerzlich erinnern. Auch dieses Leiden und der Verlust der Heimat sind in letzter Konsequenz für die Menschen, die heute zumeist in Wohlstand und Frieden leben, kaum zu begreifen.

Ähnlich ist es auch mit dem Schicksal von Elfriede Maisch-Doss und ihrer Schwester Lieselotte Maisch. Für die Kriegsgräberstätte Groß-Nädlitz haben sie sogar einen der 600 Friedensbäume gespendet. Am Tag der Veranstaltung schmücken sie eine Kreuzgruppe unweit der Namensstele in Gedenken an ihren Bruder Robert Gustav Maisch mit Blumen, Tannenzweigen aus der Heimat und einem großen Foto. Als der große Bruder starb, war Elfriede bereits im Kindesalter und Lieselotte eine junge Frau. So erinnern sie sich noch sehr gut an ihn. „Ich weiß noch, wie ich ihm während seines Heimaturlaubes aufgrund von Erfrierungen immer die Füße einbalsamiert habe – und er mir dafür zehn Pfennige gegeben hat“, sagt Elfriede und kann dabei kaum ein erschütterndes Schluchzen unterdrücken. Dennoch ist sie froh, dass sie ihn noch so gut in Erinnerung hat. Seine Feldpostbriefe hütet sie wie einen Schatz. Auch der Volksbund ist ihr sehr wichtig. So hat sie schon zweimal mit großem Erfolg anlässlich eines runden Geburtstages um Spenden für den Volksbund gebeten. Übrigens war ihr verstorbener Mann, der zwei Brüder im Krieg verloren hat, bereits seit 1942 Mitglied im Volksbund. Auch die Gräber seiner Brüder möchte sie bald besuchen.

Es lohnt sich!

Viele Informationen darüber hat Elfriede Maisch-Doss über die Gräbersuche des Volksbundes auf der Internetseite www.volksbund.de erhalten. Dazu rät sie auch den anderen Angehörigen: „Und wenn Sie keinen eigenen Internetanschluss haben, dann fragen sie doch einfach jüngere Verwandte oder Freunde – es lohnt sich!“

Jugendliche vom Sankt Benno-Gymnasium Dresden sind heute ebenfalls unter den 250 Gästen der Gedenkveranstaltung. In ihrer Schule gibt es Unterricht in deutscher und polnischer Sprache. So tragen Alexandra Kloppe und Elisabeth Sitzlack zwei Gedichte des Breslauers Tadeuzs Rozewicz zweisprachig vor. Freundschaftliches Verständnis hatten zuvor bereits die Soldaten der 5. und 8. Kompanie des Wachbataillons beim Bundesministeriums für Verteidigung aus Berlin sowie des polnischen 1. Pionierregimentes aus Brieg (Brzeg) bewiesen. Sie haben unter anderem den Friedhof gemeinsam für die Veranstaltung vorbereitet, die Bäume des Friedensparks beschnitten, neue Namensstelen gesetzt und auch die Block-Kennzeichnungen erneuert. Diese unscheinbaren Kopfsteine sind für die Angehörigen sehr wichtig. Denn anhand der Informationen des Einbettungsplanes kann man mit ihrer Hilfe die genauen Grablagen bestimmen. So sieht man verteilt auf dem Gelände kleine Metallschildchen mit den Namen der Kriegstoten, davor schöne Blumensträuße, die neben den vom Wachbataillon und den polnischen Kameraden niedergelegten 25 Kränzen den Friedhof mit ihrer Farbenpracht schmücken.

Vielleicht erinnern sich die Angehörigen am Ende der ergreifenden Veranstaltung bei der offiziellen Verlesung der Namen ihrer verstorbenen Lieben wieder an den Kontrast zum Umbetter-Vortrag, an die zerschlagenen, teils verkohlten Knochen im freien Feld. Es ist ein langer Weg von dort bis zu diesem würdigen Ort. Viele Räder müssen hilfreich ineinander greifen, damit er gelingt. Und am Ende steht die Frage, was bleibt? Was bergen diese Gräber neben den Gebeinen und ein paar wenigen Erinnerungsstücken? Gäste der Gedenkveranstaltung in Groß-Nädlitz und Förderer des Volksbundes können darauf womöglich eine Antwort geben: Denn was bleibt, ist nicht nur die individuelle Erinnerung – sondern auch die kollektive Hoffnung, dass so etwas Schreckliches wie der Zweite Weltkrieg und seine Folgen nie wieder passieren mögen.

Maurice Bonkat